Schmerzpatienten müssen möglichst rasch behandelt und entsprechend eingeordnet werden, um eine Chronifizierung zu verhindern.

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Es ist schon eigenartig: Obwohl Schmerz ein Thema ist, mit dem sich jeder Mensch auseinandersetzen muss, wird dieses Phänomen in der Medizin recht stiefmütterlich behandelt. Wenngleich er als Symptom verschiedenster Erkrankungen und Verletzungen in Erscheinung tritt, stellt er Ärzte und Therapeuten in chronifizierter Form oder als eigenständige Krankheit vor große Herausforderungen. Darüber sind Experten sich einig.

"Die Problematik ist, dass wir in Österreich 1,8 Millionen Menschen mit chronischen oder chronisch wiederkehrenden Schmerzen haben, von denen 350.000 bis 400.000 von der sogenannten Schmerzkrankheit betroffen sind", erläutert Ärztekammerpräsident Thomas Szekeres. Bei den davon Betroffenen sei der Schmerz zu einem eigenständigen Krankheitsbild geworden, der Akutschmerz habe sich in eine chronische Form dieser subjektiven Sinneswahrnehmung verwandelt. Diese Tatsache mache eine eigene Behandlungsstrategie erforderlich.

Schmerz gilt als lebenswichtiges, zutiefst individuell empfundenes Warnsignal. Geht seine ursprüngliche Funktion verloren und hält er dauerhaft an, wird er als chronisch bezeichnet. Die Lebensqualität leidet, es kommt zu vermehrten Krankenständen und Frühpensionierungen. Des Weiteren spielt der demografische Wandel in Bezug auf die Erhöhung der Anzahl an Schmerzpatienten eine große Rolle. Szekeres bezeichnet die Behandlung des chronischen Schmerzes als eine der daraus resultierenden Herausforderungen. "Wir werden immer älter und werden somit immer häufiger von chronischen Erkrankungen betroffen sein."

Ausbildung fehlt

Während in Deutschland Schmerzmedizin ein Pflichtfach ist, fehlt in Österreich eine fundierte schmerzmedizinische Basisausbildung, wie die Anästhesistin und Leiterin der Schmerzambulanz der Krankenanstalt Rudolfstiftung, Gabriele Grögl, anmerkt: "Die Patienten suchen in der Regel Hilfe im niedergelassenen Bereich. Unglücklicherweise fehlen oftmals entsprechende Netzwerke, um sie an Experten zuweisen zu können, oder es bleibt schlicht keine Zeit, schmerzmedizinische Zusatzausbildungen zu absolvieren. Universitär wird dieser Bereich nicht abgedeckt."

Schmerz erfordert viel Aufwand und eine entsprechende Expertise. Ist dies nicht gewährleistet, können Patienten kaum adäquat versorgt werden. Hinzu kommt, dass hierzulande Schmerzambulanzen von Schließungen betroffen sind und die derzeit 48 bestehenden mit fehlenden Versorgungsstrukturen kämpfen. "Drei bis vier Monate Wartezeit auf den ersten Termin und oftmals strukturell schlecht aufgestellte Einrichtungen ohne Ressourcen, wo eine multimodale Schmerztherapie kaum möglich ist – so gestaltet sich die Realität", malt Grögl ein düsteres Bild. "Das Ziel muss sein, die funktionelle Unabhängigkeit der Patienten wiederherzustellen oder zu gewährleisten, ihre Lebensqualität zu verbessern und aufrechtzuerhalten. Schmerz belastet nicht nur die Betroffenen, sondern auch ihr gesamtes Umfeld, nicht selten in finanzieller Hinsicht."

Grögl weiß: Schmerzpatienten müssen möglichst rasch behandelt und entsprechend eingeordnet werden, um eine Chronifizierung zu vermeiden. "Wir benötigen eine zentralgesteuerte Bedarfsbehandlung für Schmerzpatienten. Versorgungseinrichtungen müssen ganz bestimmten Qualitäts- und Strukturkriterien entsprechen, wir brauchen Experten. Schmerzmedizin muss in das Medizinstudium integriert werden."

Enge Zusammenarbeit

In Österreich gilt Schmerzmedizin in erster Linie als Domäne des Fachbereichs Anästhesiologie. Allerdings bedarf es diesbezüglich eines interdisziplinären Ansatzes, wie der Leiter des Zentrums für Interdisziplinäre Schmerztherapie und Palliativmedizin am Klinikum Klagenfurt, Rudolf Likar, betont: "Schmerz erfordert viele Disziplinen, die eng zusammenarbeiten müssen, zum Beispiel aus dem Bereich physikalische Medizin, Orthopädie, aber auch Psychologie und Physiotherapie. Wir haben das Glück, in Klagenfurt multimodale Schmerztherapie anbieten zu können, wodurch Patienten wieder in den Arbeitsalltag integriert werden können."

In Klagenfurt werden Patienten in kleinen Gruppen tagesklinisch betreut und haben die Möglichkeit, je nach Bedarf nichtinvasive und invasive Methoden in Anspruch nehmen. Die Patientenzufriedenheit ist laut Likar groß. "Wir brauchen in Bezug auf die Versorgung von Schmerzpatienten eine bessere Finanzierung und ein Konzept, wie wir es in Kärnten leben, in allen Bundesländern. Multimodale Schmerzkonzepte verbessern die Lebensqualität Betroffener und können dazu beitragen, Kosten zu sparen, die durch Krankenstände oder Frühpensionierungen entstehen."

Schmerz erfordert immer eine ganzheitliche Betrachtung des Patienten. Nicht zuletzt deshalb, weil die psychische Belastung enorm sein kann, wenn jemand ständig unter Schmerzen leidet. Michael Herbert, Professor für Spezielle Anästhesiologie, kennt die Wichtigkeit psychologischer und sozialer Faktoren bei Schmerzpatienten: "Wir brauchen Psychotherapeuten ebenso wie physikalische Mediziner und Physiotherapeuten zur Unterstützung."

Kosten erstatten

Herbert vergleicht die Situation in Österreich mit jener in Deutschland, wo Schmerz anders klassifizierbar ist. "Wir müssen dorthin, wo aufgrund einer Klassifizierung eine Refundierung der Kosten möglich wird. Es ist schwierig, den Patienten zu helfen, da eine Dokumentation im eigentlichen Sinne hier in Österreich praktisch unmöglich ist." Moderne Konzepte würden bereits existieren, so der Experte: "Wir sind gefordert. Es gibt mehr als Aspirin und Morphium."

Die Diagnosestellung von Schmerz ist mitunter schwierig. Ist beispielsweise das periphere Nervensystem, das eigentlich für die Schmerzweiterleitung ans Gehirn zuständig ist, selbst zur Schmerzursache geworden, sprechen Experten von neuropathischen Schmerzen, umgangssprachlich Nervenschmerzen genannt. Gerd Bodner, Facharzt für Radiologie und Schmerzexperte, hat sich auf Schmerzdiagnostik durch hochauflösenden Ultraschall spezialisiert. Er macht, wenn man so will, Schmerzen sichtbar. Bodner betont: "Vor allem bei chronischen Schmerzpatienten benötigen wir eine viel bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit inklusive psychologischer Betreuung."

Zugang zu Cannabis erleichtern

Des Weiteren müsse solchen Patienten der Zugang zu Cannabis zur Linderung ihrer Schmerzen erleichtert werden. Der im Traumazentrum Wien am Standort Lorenz-Böhler-Krankenhaus tätige Nervenchirurg Veith Moser hält Interdisziplinarität im Bereich Schmerzbehandlung für unabdingbar, plädiert aber dafür, auch Chirurgen miteinzubeziehen: "Schmerz sollte nicht nur konservativ von Anästhesisten oder Neurologen behandelt werden, es macht durchaus Sinn, Nervenchirurgen oder gegebenenfalls Neurochirurgen mit ins Boot zu holen."

Er rät, Schmerzen nach Operationen, Unfällen oder Ähnlichem umgehend abklären zu lassen: "Je länger man wartet, desto schwieriger wird es, den Schmerz wieder loszuwerden. Deshalb ist eine frühzeitige Konsultation entsprechender Experten das Um und Auf. Schmerzbehandlung sollte so früh wie möglich erfolgen. Bedauerlicherweise sind interdisziplinäre Schmerzzentren, die alle erforderlichen Fachrichtungen beinhalten, in Österreich praktisch nicht existent." (Sonja Streit, 24.5.2018)