Ein junger Mann mit Handtuchrolle unterm Arm ist zielstrebig Richtung See unterwegs. Hie und da plätschert es laut, weil die Schwimmbecken in den Innenhöfen der Wohnanlagen von den Kindern schon mit Arschbomben bespielt werden: Das Straßenbild in der Seestadt Aspern in Wien-Donaustadt hat für Außenstehende durchaus Überraschendes, denn Badewillige begegnen einem sonst nur in Urlaubsorten auf der Straße.

DER STANDARD

"Urlaubsfeeling" geben auskunftsfreudige Bewohner an einem sonnigen Tag Anfang Mai auch gerne als eine der Hauptattraktionen des neuen Stadtteils an. Genauso wie das Nachbarschaftsgefühl, das in dem Viertel offenbar großgeschrieben wird, und die vielen Gemeinschaftseinrichtungen – darin sind sich die Seestädterinnen und Seestädter einig, die an einem Freitagnachmittag beim Markt am Hannah-Arendt-Platz Gemüse und Wein einkaufen.

Grätzeltreffpunkte

"Ich sage immer, ich fahre in meine kleine Stadt, wenn ich von der Arbeit nach Hause fahre. Hier ist es wie im Dorf", erzählt Birgit Thallinger, die jede Woche beim Stand "Josefs Seewinkel" einkauft. Hier geht es zu wie sonst auf dem Land; ohne Verkostung eines Schlucks Wein kommt niemand so schnell vorbei. Und Standler Josef Thüringer, der seine Einrichtung hier "als Event" versteht, kennt seine Kunden mit Vornamen und weiß überhaupt über vieles Bescheid, wie er versichert.

Fürs Foto posieren die Standler von "Josefs Seewinkel" gern. Hier kommt niemand so schnell daran vorbei.
Foto: Marietta Adenberger

Es ist ein Ort, wo gern Neuigkeiten ausgetauscht, Bekanntschaften geknüpft werden. Auch die Buchhandlung "Seeseiten" ist so etwas wie ein Grätzeltreffpunkt, den jeder kennt. "Dort bekommt man sogar einen Kaffee", sagt eine Mutter, die oft aus Stadlau hierherkommt, um mit ihrem Kind nach Büchern zu stöbern und die Spielplätze und Radgeschäfte zu besuchen. "Viele Seestädter kennen sich, es gibt sehr viele Feste und Veranstaltungen, und an schönen Tagen gehen die Leute draußen mit ihren Luftmatratzen vorbei", schildert Silvia Kobsik, ehemals Stammkundin und nun Quereinsteigerin mit Herz und Seele im Buchgeschäft. Auch sie kennt Kunden mit Vornamen, und dass jemand hereinkommt, um zu plaudern, ist Normalität. "Ist der Johannes da?", fragt ein Kunde und meint damit Buchhändler Johannes Kößler, der 2015 gemeinsam mit Bettina Wagner die Seeseiten eröffnet hat.

In der "Seeseiten"-Buchhandlung bekommen die Kunden auch eine Tasse Kaffee. Die Besitzer sind pädagogisch sehr engagiert und machen viele Events für Kinder. Blättern in der gemütlichen Kinderecke ist erlaubt.
Foto: Marietta Adenberger

Außenstehende auf der Suche nach dem "Ghetto"

"Manche Leute suchen hier ein Ghetto, finden es aber nicht", so Kobsik. Sie ist damit schon die Zweite, die dieses Wort in dem Zusammenhang voller Entrüstung in den Mund nimmt. Auch eine junge Mutter, die mit ihrer Familie in einer Anlage der Sozialbau AG wohnt und die Dachterrasse mit den Hochbeeten, den Fitnessraum und den riesigen Gesellschaftsraum zu schätzen weiß, denkt so.

Eines von vielen Schwimmbecken in den Innenhöfen und auf den Dächern der Wohnanlagen in der Seestadt.
Foto: Marietta Adenberger

Es ist fast so, als müssten die Seestädter gemeinschaftlich ein Stück weit zusammenrücken, um Kritikern zu beweisen, dass so eine künstlich aufgebaute Stadt auch sozial funktioniert. Denn vorbeispazierend an den Baustellen in U-Bahn-Nähe auf der einen, dem künstlichen See auf der anderen Seite und später durch Österreichs erste gemanagte Einkaufsstraße und die exakt ausgemessenen Häuserecken mit ihren durchdachten Freiräumen, hat die Seestadt für Erstbesucher schon etwas von einer Filmkulisse. So sehr, dass eine Gruppe Jugendlicher, die plötzlich mit BMX-Rädern und Helmkamera ausgestattet auftauchen und über die Sitzbänke hinweg ihre gewagten Stunts vorführen, wie ins Drehbuch hineingeschrieben erscheint.

Gleich hinter dem See wird noch gebaut. Im Seeparkquartier entstehen etwa eine Sammelgarage, ein Studentenwohnheim und das Holzhochhaus HoHo.
Foto: Martin Putschögl

Starthilfe für Gemeinsames

Weitaus geerdeter geht es bei den Gemeinschaftsgärten im Madame-d’Ora-Park im Südwesten des Siedlungsgebietes zu. Hier ist die Natur das Verbindende: "Neben mir garteln Afghanen, Philippinen und Ungarn, das internationale Miteinander gefällt mir", sagt Barbara Linder, die gerade mit einer orangen Gießkanne in einem der Beete hantiert, als Ausgleich zum stressigen Arbeitsalltag. Sie beobachtet an Wochenenden immer wieder Grüppchen, die gemeinsam in den Gärten brunchen oder grillen. "Das soziale Leben muss sich aber noch etwas mehr entwickeln", sagt die gebürtige Kärntnerin, die sich in der Seestadt sehr sicher fühlt. "Das ist wohl auch auf die Planung zurückzuführen", meint sie und betont, dass die Infrastruktur hier nicht schlecht sei. "Ein zweites Lebensmittelgeschäft wäre allerdings gut." Ein solches wird übrigens auch bald kommen, im noch in Bau befindlichen Seeparkquartier.

Auch ein Treffpunkt der Kulturen: Im Madame-d’Ora-Park gärtnern die Seestädter.
Foto: Marietta Adenberger

Bekanntes Stadtteilmanagement

Eine Einrichtung, die ebenfalls jeder hier zu kennen scheint, ist das Stadtteilmanagement, in zentraler Lage gleich neben den zwei beliebten Restaurants und nahe dem Schulcampus der Seestadt gelegen. "Fragen Sie die!", ist oft zu hören, wenn man sich nach nachbarschaftlichem Engagement erkundigt. "Die Leute hier nehmen unser Angebot gut an, und wir sind auch aufsuchend unterwegs", bestätigt der stellvertretende Projektleiter Johannes Posch. "Das Außergewöhnliche in der Seestadt ist, dass es viele initiative Menschen gibt." Seit der ersten Stunde gibt es etwa einen Seestadt-Chor, auch einen Kinder-Chor und demnächst wollen die Seestädter gemeinsam eine große Ackerfläche neben der Hundezone beim Madame-d’Ora-Park bewirtschaften.

Geglücktes "Willkommen"

An Veranstaltungen stehen allein für die vergangene Woche über 20 Termine im Seestadt-Kalender. Diese Stimmung, irgendwo mitzuwirken, ziehe sich quer durch, nicht nur bei den sehr engagierten Menschen der diversen Baugruppen, die hier schon gebaut haben oder noch bauen werden. Einen Grund dafür sieht Posch darin, dass ein Großteil der Menschen gemeinsam und gezielt hier angekommen ist – mit eigenen Vorstellungen und hohen Ansprüchen an das städtebauliche Konzept. "Das Willkommen ist geglückt", so Posch, der den Bewohnern mit seinem Team hilft, mit ihren vielen Ideen in Schwung zu kommen, Projekte moderiert und Starthilfe gibt, damit die Vereine und Initiativen möglichst schnell selbstständig werken. Auch Raum dafür, Konflikte positiv auszutragen, müsse vorhanden sein.

Viel Platz für Gemeinsames, auch wenn manches noch wie aus dem Drehbuch wirkt: In der Seestadt Aspern kehrt Leben ein.
Foto: Martin Putschögl

Budget und noch mehr Raum für die Nachbarschaft

Momentan ist ein sogenanntes Nachbarschaftsbudget ausgeschrieben, für das Ideen eingereicht werden können. Eine geloste Jury wird schlussendlich entscheiden, wer das Rennen macht. Die Einreichungen gehen in Richtung gemeinsamen Sportelns, nichtkommerzieller Angebote für verschiedene Generationen oder DIY-Aktivitäten wie Handwerken oder Handarbeiten. Brandneu und fast schon besenrein ist ein neuer zusätzlicher Raum für nachbarschaftliche Aktivitäten in der Sockelzone einer Hochgarage im Seeparkquartier, wo derzeit viele neue Bauten entstehen, verrät Posch. Die Bewohner dürfen sich hier auf 90 Quadratmeter Gemeinschaftsfläche freuen, wo eventuell eine Werkstatt Platz finden könnte. Eine weitere Option für wettertechnisch unfreundlichere Tage, wenn das Urlaubsgefühl und die Gartenaktivitäten einmal nachlassen sollten. (Text: Marietta Adenberger, Video: Andreas Müller, 26.5.2018)