Wien/Innsbruck – In Österreich leiden rund 12.500 Menschen an Multipler Sklerose (MS), weltweit sind es etwa 2,3 Millionen. Eine effektive Behandlung in den ersten Phasen der Krankheit kann Patienten eine Invalidität ersparen und zahlt sich gesundheits- und gesamtökonomisch aus, sagt Thomas Berger von der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) im Vorfeld des Welt-MS-Tages, der am 30. Mai stattfindet.

MS ist die häufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter mit Risiko einer zukünftigen Behinderung. Vier Mal mehr Frauen als Männer entwickeln diese chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. Bei etwa 85 bis 90 Prozent beginnt die Krankheit mit einem schubförmigen Verlauf. Es gibt aber auch Patienten, bei denen die Symptome von Anfang an ständig zunehmen (primär progredient). Ein erheblicher Anteil der Betroffenen, die zunächst immer wieder akute Schübe haben, würde ohne Behandlung später einen sekundär progredienten Verlauf mit ständigem Fortschreiten der Symptome entwickeln: besonders die sich verschlimmernde Beeinträchtigung der Gehfähigkeit, die Behinderung und Invalidität bedeutet.

Während bis zur Mitte der 1990er-Jahre nur eine medikamentöse Therapie akuter MS-Schübe möglich war, hat sich die Situation seither deutlich gewandelt. Mit den ersten krankheitsmodifizierenden Therapien, z.B. Beta-Interferone oder dem Wirkstoff Glatirameracetat, ließ sich die Schubrate um etwa ein Drittel reduzieren. Monoklonale Antikörper und synthetische Wirkstoffe, die gezielt in die Krankheitsabläufe der MS eingreifen, sind hinzugekommen. Die Wirksamkeit der Therapie hat sich in den vergangenen Jahren deutlich erhöht.

Krebsmedikamente im Einsatz gegen MS

"Heute zielen unsere Therapien darauf ab, akute MS-Schübe möglichst überhaupt zu vermeiden", so Berger. Bei optimaler Behandlung scheint dieses Ziel bereits bei 80 bis 85 Prozent der Patienten erreichbar zu sein. Das Konzept dahinter: Durch möglichst wirksame Unterdrückung der chronisch entzündlichen Erkrankung des Zentralnervensystems sollen ein Fortschreiten und eine sich akkumulierende Invalidität verhindert werden.

In den vergangenen Monaten wurden in der EU zwei Medikamente und Behandlungsformen zugelassen, die eine weitere Verbesserung bringen sollen. Berger, stellvertretender Klinikdirektor an der Neurologischen Universitätsklinik in Innsbruck dazu: "Es handelt sich dabei um Cladribine zur Behandlung der aktiven schubförmigen MS und um den monoklonalen Antikörper Ocrelizumab zur Therapie der aktiven schubförmigen, aber erstmals auch der von Beginn fortschreitenden Form der Multiplen Sklerose."

Endgültige Befunde fehlen noch

Cladribine wurde als Krebsmedikament entwickelt. Sein Einfluss auf das Immunsystem macht es in der Therapie der Multiplen Sklerose auf ganz neue Art einsetzbar. "Patienten werden damit in Tablettenform für 14 Tage behandelt. Dann folgt ein Jahr Pause, danach wird im zweiten Jahr noch einmal 14 Tage behandelt. Darauf folgt eine Nachbeobachtungsphase von zwei Jahren", erklärt MS-Experte Thomas Berger.

Noch fehlen endgültige Befunde. Aber in einer klinischen Untersuchung mit 1.326 MS-Patienten ließen sich bis zu 80 Prozent der Betroffenen schubfrei halten. Mittlerweile geht man davon aus, dass selbst vier Jahre nach Therapie noch eine Freiheit von akuten Krankheitsepisoden bei 50 Prozent der Betroffenen erreicht werden kann.

Keine echte Neuerung

Bei der zweiten neuen Therapie, die in der EU Anfang 2018 registriert wurde, handelt es sich um den monoklonalen Antikörper Ocrelizumab. "Das Arzneimittel wurde für die Behandlung der aktiven schubförmigen MS zugelassen, aber auch für Patienten mit früher primär chronisch progredienter MS. Hier gab es bisher gar keine Therapie", erklärte Berger.

Eine tatsächliche Neuerung stellt der Wirkstoff Ocrelizumab, der unter dem Namen Ocrevus vertrieben wird, allerdings nicht dar. "Es handelt sich um eine leicht modifizierte Form des monoklonalen Antikörpers Rituximab, der bei rheumatischen und onkologischen Erkrankungen in Verwendung ist. Seit etwa 15 Jahren wird er auch "off-label" zur Behandlung von MS eingesetzt", erläutert der Wiener Neurologe Rainer Grass.

Nach einer Erstanwendung erfolgt die weitere Therapie mit dem Medikament alle sechs Monate – jeweils per Infusion. In der für die Zulassung von Ocrelizumab für die Behandlung dieser Form der MS entscheidenden Studie zeigte sich über einen Zeitraum von zwölf bzw. 24 Wochen eine Reduktion des Fortschreitens von Behinderung bei einer solchen Therapie im Vergleich zur Gabe eines Placebos um etwa ein Viertel.

Bessere Lebensqualität

Die neuen Behandlungsformen sollen für die Patienten eine bessere Lebensqualität über einen deutlich längeren Zeitraum ihres Lebens hinweg gewährleisten. Gerade auf diesem Gebiet zeigt daneben eine neue auch in Österreich durchgeführte wissenschaftliche Untersuchung von Berger und Co-Autoren, dass eine wirksame frühzeitig Behandlung der Multiplen Sklerose ökonomisch einen Vorteil bieten dürfte.

Im Rahmen der Untersuchung wurden in 16 europäischen Staaten insgesamt rund 16.000 MS-Patienten bezüglich Gesundheitsstatus, Beschäftigung, Pflegebedarf, medizinischen Versorgungsaufwand, Lebensqualität und anderer Faktoren befragt. In der österreichischen Teilstudie, deren Ergebnisse im vergangenen Jahr veröffentlicht wurden, wurden die Angaben von 517 Patienten analysiert. Das mittlere Alter betrug 53 Jahre, 72 Prozent waren noch nicht im Pensionsalter.

In der Patientengruppe mit keiner oder nur schwacher Behinderung (EDSS-Wert 0-3,5) durch die MS-Erkrankung betrugen die Jahres-Gesamtkosten durch die Erkrankung (Ausgaben für Gesundheitsversorgung mit Arzneimitteln, Arztkonsultationen, Spitalsaufenthalte sowie die indirekten Kosten durch Krankenstand, Invalidität, Frühpensionierung etc.) rund 25.100 Euro. Bei "moderater" Behinderung (EDSS 4 bis 6,5; bei 6,5 benötigt der Betroffene bereits Gehhilfen) stiegen die Jahreskosten auf 44.100 Euro an. Schwere bis schwerste Behinderung (EDSS 7 bis 9) ging mit einem Jahresaufwand von 73.800 Euro einher.

Kosten sparen

Während die Ausgaben für spezifisch gegen die MS wirkende Therapien in der ersten Gruppe (keine bis geringe Behinderung) pro Jahr und Patient 11.860 Euro betrug, waren es in der mittleren Gruppe im Durchschnitt 9.222 Euro und bei den Patienten mit fortgeschrittenster Erkrankung 2.779 Euro. Das deutet darauf hin, dass zu Beginn der Erkrankung die direkten Behandlungskosten anteilsmäßig höher sind, dann jedoch die indirekten Kosten überproportional steigen. Berger sagt dazu: "Man könnte daraus folgern, dass eine intensive und wirksame Therapie in der Anfangs- und Frühphase eine Kostenexplosion in der Spätphase der Erkrankung verhindert."

Freilich, hier müssen aber auch noch viele andere Aktivitäten gefördert werden, die MS-Patienten zugutekommen. So hat sich in der Umfrage herausgestellt, dass in ganz Europa – auch in Österreich – offenbar viel zu wenige Betroffene dazu in der Lage sind, weiterhin ihren Beruf auszuüben. "Sowohl in Österreich als auch in den anderen Staaten und egal in welchem Gesundheitssystem sind – auch bei einem nur leichten Behinderungsgrad (EDSS 3) – nur noch etwa 50 Prozent der MS-Patienten berufstätig", sagt Berger. Die meisten der MS-Betroffenen würden darüber hinaus typischerweise an "Fatigue" (krankheitsbedingte Ermüdbarkeit) und/oder kognitiven Problemen leiden. (APA, red, 25.5.2018)