Die Schaltzentrale des menschlichen Organismus: Hier laufen die Impulse von vielen Milliarden Nervenzellen zusammen. Bei MS sind Teile des Nervensystems gestört.

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Im menschlichen Organismus sind viele Systeme miteinander verwoben. Das menschliche Nervensystem ist hochkomplex, und wie genau es funktioniert, ist Gegenstand der Forschung. Die große Herausforderung: Es besteht aus mehreren Milliarden Nervenzellen, die das Gehirn mit dem gesamten Körper verbinden – bis in die kleine Zehe sozusagen. Die Weiterleitung von Impulsen ist Aufgabe der Neuronen. Sie sind eine Art Nachrichtenübermittler, die Denken, Fühlen und Handeln möglich machen.

Multiple Sklerose ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des aus Gehirn und Rückenmark bestehenden Zentralnervensystems (ZNS). Die Entzündungsherde befinden sich an vielen (multiplen) Stellen im ZNS und führen dort zur Verhärtung und Vernarbung (Sklerose) des betroffenen Gewebes. "Wir gehen davon aus, dass bei MS das körpereigene Immunsystem fehlgeleitet ist", sagt Barbara Kornek von der Universitätsklinik für Neurologie an der Med-Uni Wien. Bei der MS sind viele Kriterien einer Autoimmunerkrankung erfüllt, aber nicht alle.

Breites Spektrum

Dafür weiß man ziemlich genau, was im Nervensystem passiert. Das Immunsystem greift Teile des Nervensystems an, zunächst das Myelin. Bevorzugte Stellen: die Sehnerven, das Rückenmark, sowie Bereiche um die Ventrikeln, also Hohlräume, die mit Nervenwasser gefüllt sind. Entsprechend den betroffenen Stellen entwickeln sich die Beschwerden.

Die sklerotischen Bereiche, als Läsionen oder Plaques bezeichnet, können zu unterschiedlichen Funktionsbeeinträchtigungen führen. Mediziner bezeichnen MS auch als Encephalomyelitis disseminata, als verstreute Hirn- und Rückenmarksentzündung.

Die multiple Sklerose ist die häufigste neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter mit Risiko einer zukünftigen Behinderung. Viermal mehr Frauen als Männer entwickeln diese chronisch entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems. "Wir nehmen an, dass es auch einen hormonellen Einfluss auf das Krankheitsgeschehen gibt, weil die Krankheitshäufigkeit bei Frauen ab der Pubertät ansteigt und nach der Menopause wieder sinkt", so Kornek.

Schub interpretieren

Besonders belastend, so die Neurologin, sei vor allem der Beginn der Erkrankung. Bei etwa 85 bis 90 Prozent beginnt die Krankheit mit einem schubförmigen Verlauf. Oft bleibt es aber auch bei einem einzigen Schub. "Es ist eine Herausforderung, mit dieser Unsicherheit umgehen zu lernen", sagt Kornek. Wie sich die Krankheit entwickelt, lässt sich erst nach zwei bis drei Jahren sagen. Die Häufigkeit und der Schweregrad der Schübe beziehungsweise die Nachhaltigkeit der Beeinträchtigung lassen Prognosen zu.

Nur bei zehn bis 20 Prozent der Patienten nehmen die Symptome von Anfang an ständig zu (primär progredient). Ein erheblicher Anteil der Betroffenen, die zunächst immer wieder akute Schübe entwickeln, würde, wenn er keine Therapie erhielte, später einen sekundär progredienten Verlauf mit ständigem Fortschreiten der bestehenden Symptome entwickeln – vor allem Beeinträchtigung der Gehfähigkeit, die Behinderung und Invalidität bedeutet.

Innovation in Behandlung

Während bis zur Mitte der 1990er-Jahre nur eine medikamentöse Therapie akuter MS-Schübe möglich war, hat sich die Situation seither deutlich gewandelt. Mit den ersten krankheitsmodifizierenden Therapien, etwa Beta-Interferonen oder dem Wirkstoff Glatirameracetat, ließ sich die Schubrate um etwa ein Drittel reduzieren. Monoklonale Antikörper und synthetische Wirkstoffe, die gezielt in die Krankheitsabläufe der MS eingreifen, haben das Therapiespektrum erweitert.

"Heute zielen unsere Therapien darauf ab, akute MS-Schübe möglichst überhaupt zu vermeiden", so Thomas Berger, Koordinator für MS der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie (ÖGN). Bei optimaler Behandlung scheint dieses Ziel bereits bei 80 bis 85 Prozent der Patienten erreichbar zu sein. Das Konzept dahinter: Durch möglichst wirksame Unterdrückung der chronisch entzündlichen Erkrankung des Zentralnervensystems sollen ein Fortschreiten und eine sich akkumulierende Invalidität verhindert werden.

Neue Therapien

In jüngerer Vergangenheit wurden in der EU zwei neue Medikamente und Behandlungsformen zugelassen, welche eine weitere Verbesserung bringen sollen. "Es handelt sich dabei um Cladribine zur Behandlung der aktiven schubförmigen MS und um den monoklonalen Antikörper Ocrelizumab zur Therapie der aktiven schubförmigen, aber erstmals auch der von Beginn an fortschreitenden Form der multiplen Sklerose. Für diese Verlaufsform der MS stand bisher überhaupt keine medikamentöse Behandlung zur Verfügung", so Berger.

Cladribine wurde ursprünglich als Krebsmedikament entwickelt. Sein Einfluss auf das Immunsystem aber macht es in der MS-Therapie auf ganz neue Art einsetzbar. Berger: "Patienten werden damit in Tablettenform für 14 Tage behandelt. Dann folgt ein Jahr Pause, danach wird im zweiten Jahr noch einmal 14 Tage behandelt. Darauf folgt eine Nachbeobachtungsphase von zwei Jahren."

Noch fehlen endgültige Befunde. Aber in einer klinischen Untersuchung mit 1.326 Patienten ließen sich bis zu 80 Prozent der Betroffenen schubfrei halten. In der Placebogruppe blieben rund 60 Prozent ohne Schub. Die jährliche Schubrate wurde damit etwa halbiert. Mittlerweile geht man davon aus, dass selbst vier Jahre nach Therapie noch eine Freiheit von akuten Krankheitsepisoden bei 50 Prozent der Betroffenen erreicht werden kann.

Neu seit 2018

Bei der zweiten neuen Therapie, die in der EU Anfang 2018 zugelassen wurde, handelt es sich um den monoklonalen Antikörper Ocrelizumab. "Das Arzneimittel wurde für die Behandlung der aktiven schubförmigen MS zugelassen, aber auch für Patienten mit früher primär chronisch progredienter MS. Hier gab es bisher gar keine Therapie", sagt Berger. Der monoklonale Antikörper wirkt gezielt auf die B-Zellen des Immunsystems, welche an der multiplen Sklerose beteiligt sind.

Nach einer Erstanwendung erfolgt die weitere Therapie mit dem Medikament alle sechs Monate – jeweils per Infusion. In der für die Zulassung von Ocrelizumab für die Behandlung dieser Form der MS entscheidenden Studie zeigte sich über einen Zeitraum von zwölf beziehungsweise 24 Wochen eine Reduktion des Fortschreitens von Behinderung bei einer solchen Therapie im Vergleich zur Gabe eines Placebos um etwa ein Viertel.

Die neuen Behandlungsformen bedeuten für die Patienten vor allem eine bessere Lebensqualität über einen deutlich längeren Zeitraum ihres Lebens hinweg. Das ist an sich schon extrem wichtig. "Multiple Sklerose bedeutet, dass die Patienten mit dieser Diagnose beziehungsweise Erkrankung bis zu 60 bis 70 Jahre leben müssen", betonte der Neurologe. Deshalb kommt es auf die langfristigen Ergebnisse der Therapie an.

Mit MS leben

"MS ist in den letzten Jahren zu einer Erkrankung geworden, mit der viele gut leben können", kann Kornek berichten. Der Umgang der Patienten mit der Erkrankung ist individuell unterschiedlich, für Patienten mit wenig Resilienz kann eine psychotherapeutische Begleitung sinnvoll sein, hat sie die Erfahrung gemacht.

Ein Hot-Topic für die MS-Forscher ist auch die Verbindung zwischen Nervensystem und dem Mikrobiom im Darm. "Wir nehmen an, dass das Mikrobiom eine immunmodulierende Wirkung hat", sagt Kornek, allerdings sei es zur früh, daraus eine MS-Diät abzuleiten. Bisher gibt es eine solche nicht, von einseitiger Kost wird jedoch eher abgeraten. (red, 30.5.2018)