Lokführer Han Yang überprüft zum letzten Mal seinen langen Güterzug, der fünfzig Container transportiert. Namen von einem Dutzend internationalen Fracht- und Logistikfirmen stehen darauf: Cosco, Maersk oder NYK-Nippon. Sie sind mit Elektronikteilen beladen, LED-Flachbildschirmen oder Markenkleidung und für die mehr als 10.000 Kilometer entfernten Städte Duisburg und Hamburg bestimmt. Der Lokführer drängt zur Abfahrt. Der 26-jährige Han erlaubt nur einen kurzen Besuch seines Führerstands in der alten Diesellok vom Typ "Dongfeng 7" (Ostwind). Sein jüngerer Kollege Chen Sheng sitzt dort schon startbereit. "Unser Fahrplan muss pünktlich eingehalten werden."

Die Lokführer Han Yang und Chen Sheng steuern den Containerzug auf der ersten Etappe nach Deutschland.
Foto: Erling

Seit drei Jahren fahren die Lokführer mit ihrem "Ostwind" nach Westen. Weit kommen sie allerdings nicht auf dem längsten Streckennetz der Welt. Sie bugsieren den Containerzug von der Wuhaner Verladestation Wujiashan zum fünf Kilometer entfernten eigentlichen Güterbahnhof der zentralchinesischen Metropole am Jangtse-Strom. Dort tritt die Wuhan-Europa genannte Frachtbahn ihre Reise an. Mit neuer Mannschaft an Bord des modernen Triebwagens HXD3C vom Typ "Harmonie", der von nun an den Containerzug zieht.

Parolen zieren das Portal

Drei große Parolen über dem Eingangsportal zum Verladebahnhof verabschieden den Wuhaner Treck mit Losungen zur Bedeutung der dutzenden von China nach Europa fahrenden Güterzüge und zur Frage, was das Chinas Inlandsentwicklung bringt: "Neuer Wuhan-Europa-Zug" – "Neue Seidenstraße" – "Neuer Aufbruch". Für China ist die Frachtzugroute nicht nur eine neue Geschäftsverbindung nach Europa, sondern auch ein infrastruktureller und strategischer Schachzug, um seine Position als Welthandelsmacht des 21. Jahrhunderts auszubauen und seine Seidenstraßen-Initiative auch auf "eiserne Beine" zu stellen. Peking lässt dazu die Containerbahnen für den Anfang hoch subventionieren.

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Doch nicht alles auf der transkontinentalen Schienenstrecke läuft reibungslos. 3.912 Kilometer von Wuhan entfernt, oder zwei Tage später, erreicht die Frachtbahn den Alatau-Pass Alashankou. Er ist die letzte chinesische Station vor Kasachstan. Zuvor sind an jeder innerchinesischen Provinzgrenze neue Lokführer zugestiegen. Peking hat seinen gigantischen Gütertransport nach Europa schneller auf den Weg gebracht, als die Provinzen folgen konnten, enthüllte das finanzpolitische Magazin "Caixin". Das Netzwerk für die Bahn nach Europa "ist stark fragmentiert und nicht vereinheitlicht. Es wird subventioniert und von miteinander rivalisierenden Bahngesellschaften und Stadtregierungen geleitet. Es fehlt an Koordination."

Unterschiedliche Spurbreiten

Die nächsten Hürden sind die Gleise. In Alashankou/Dostyk an der chinesisch-kasachischen Grenze muss Chinas Harmoniezug seine gesamte Fracht umladen und umkehren. Die Spurweite der Trasse verbreitert sich dort von den in China und Europa üblichen 1.435 Millimetern auf 1.520 Millimeter. Mit Kränen müssen alle Container auf parallel parkende Breitspurtragwagen umgeladen und eine neue Lok vorgespannt werden. Wenn die Containerbahn dann im polnischen Grenzbahnhof Brest ankommt, heißt es "Kommando zurück". Nun muss ihre Fracht auf europäische Normalspur zurückgeladen werden.

Wegen unterschiedlicher Zollverfahren und behördlicher Schikanen braucht der Zug aus Wuhan, je nachdem ob er, so wie mehrfach pro Woche, für Duisburg und Hamburg bestimmt ist oder, wie einmal pro Woche, weiter nach Paris und Lyon fährt, zwischen 14 und 18 Tage. "Er wird dennoch immer schneller", sagt Johannes Pflug, ehemaliger SPD-Abgeordneter und ehrenamtlicher China-Beauftragter von Wuhans Partnerstadt Duisburg, deren Hafen AG (Duisport) von den einlaufenden Zügen besonders profitiert. Früher dauerte eine Umladung bis zu 58 Stunden. "Heute hat sich die Zeit auf sechs Stunden verringert."

Die Dongfeng-Lok bringt den Frachtzug mit 50 Containern von Wuhan aus auf den Weg nach Deutschland.
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Trotz solcher Kinderkrankheiten "geht es besser voran, als wir einst gedacht haben", bestätigt vor Ort Zhao Tangxiang, Vizegeschäftsführer der im März 2014 gegründeten Wuhan-Asia-Europa-Logistikgesellschaft. Sie hat eine Niederlassung in Duisburg gegründet und will eine weitere Filiale in Paris eröffnen. Der Schienentransport sei im China-Handel ein Nischengeschäft mit weniger als einem Prozent Anteil. Ein Güterzug könne nur 0,45 Prozent der Fracht transportieren, die ein Großcontainerschiff befördert, relativiert Zhao die Bedeutung. Doch die Bahn sei schneller als Seefracht, sicher, umweltfreundlich und billiger als Luftfracht. "Ich erwarte, dass sie ihren Anteil am China-Handel bis 2020 verdoppeln kann. Sie wird künftig eine große Rolle spielen."

Neue Route nach Wien

Das Projekt Bahn ist von Peking politisch gewollt und durchgesetzt worden. Vor allem nutzte China bereits bestehende Gleise. Vor sieben Jahren gab es noch keinen regulären Containertransport aus dem Inland. Doch seither sind mehr als 8.000 Züge nach Europa und zurück gefahren. Im Monatsabstand werden es mehr. Bald alle 14 Tage wird inzwischen eine neue Frachtzugverbindung zwischen China und Europa eingeweiht, zuletzt aus Südwestchinas Metropole Chengdu ins 9.800 Kilometer entfernte Wien, von Ostchinas Qingdao nach Moskau und von Nordchinas Tangshan ins belgische Antwerpen. 43 chinesische Städte nutzen derzeit 65 Inlandsrouten, um regelmäßig mit Güterzügen 45 europäische Zentren in 14 Ländern anzufahren, wurde im Mai auf der "Transport Logistic China 2018" in Schanghai bekannt. Ihre Fahrzeiten konnten sie inzwischen um eine Woche verkürzen – auf vielen Routen auf zwölf bis 14 Tage.

Verladebahnhof Wuhan. Auf dem Torbogen steht im Dreisatz: Neuer Wuhan-Europa-Zug – Neue Seidenstraße – Neuer Aufbruch.
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Logistiker Zhao plant, 2018 rund 400 bis 500 Containerzüge von Wuhan aus auf den Weg nach Europa und zurück zu bringen. Mit 4.000 solcher Fahrten zwischen ganz China und Europa rechnet für 2018 Zhao Jun, der Frachtchef der Eisenbahngruppe CRC.

Die Metropole Wuhan gehört zu den fünf großen Playern in Chinas neuer transkontinentaler Verbindung über die Schiene. Der südwestchinesische 32-Millionen-Einwohner-Stadtstaat Chongqing, der seine Züge auch nach Duisburg in Westdeutschland schickt, steht an erster Stelle. Dann folgen die Metropole Chengdu, der Verkehrsknotenpunkt Zhengzhou und, als Mekka des privaten Kleinhandels, Ostchinas Yiwu, dessen Produkte ganz Europa überschwemmen.

Nadelöhre "Drachenpässe"

Den weiteren Höhenflug bremsen vor allem die Nadelöhre der Grenzübergänge. Die Inlandsstädte können nur drei transkontinentale Passagen nutzen. Zhao nennt sie die "Drachenpässe" nach Europa. Neben Alashankou in Xinjiang führt die mittlere Route über Erlian in die Mongolei und die Route über Manzhouli (Manjur) nach Russland. Beim Spurwechsel vor den drei Übergängen kommt es nun immer öfter zu "Rückstaus". Zhao sucht daher nach Zusatzrouten.

Eine davon ist das südlich von Alashankou gelegene Khorgas, ein gigantisch aufblühendes Umschlagzentrum, oft schon das neue Tor für Chinas großen Treck nach Westen genannt. Zhao will es nutzen, um weitere fünf Länder in Mittelasien per Bahnfracht beliefern zu können. "Wir müssen aber schneller werden."

Gemein ist allen Projekten, dass sie eng mit der "One Belt, One Road" (Obor) genannten Seidenstraßen-Initiative des chinesischen Präsidenten Xi Jinping verbunden sind. Xi kündigte 2013 an, sein Land über Infrastrukturprojekte und Wirtschaftskorridore mit Zentralasien, Afrika und Europa zu vernetzen. Zu den geplanten neuen Seidenstraßen auf dem Land- und Seeweg hat Peking nun die Schiene dazugenommen.

Wenige Monate nachdem Xi den Startschuss für die Obor-Offensive gegeben hatte, kam er Ende März 2014 im Duisport zu Besuch, trug sich ins das Goldene Buch von Duisburg ein. Er demonstrierte damit, wie wichtig der Standort als logistisches Drehkreuz für Chinas Seidenstraßen-Initiative geworden ist.

Schon nach fünf Kilometern ist für Herrn Han Endstation – dort übergibt er an seine Kollegen, die den Zug bis Europa transportieren.
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Die Züge aus China transportieren nicht "nur kommerzielle Güter, sondern auch politische Ambitionen", schreibt Asien-Ökonom Jonathan Hillman vom Washingtoner Center for Strategic and International Studies (CSIS) in einer aktuellen Studie. Jede Eröffnung einer neuen Strecke wird als Beweis dafür genommen, wie die Obor-Initiative vorankommt. Chinas globale Konnektivitätspolitik verstärkt "direkt oder indirekt" dessen Einfluss auf Europa, analysieren Paul Kohlenberg und Nadine Godehardt für die Stiftung Wissenschaft und Politik.

Hohe Subventionen

Dafür ist Peking auch bereit, die Schienentransporte fast bis zur Hälfte ihrer Kosten zu subventionieren. Hillman zitiert Berichte, wonach die Zuschüsse zwischen 1.000 und 5.000 Dollar pro Standardcontainer betragen. Die hohen Subventionen lösten auch das Problem, dass die Hälfte der Container leer aus Europa zurückkommen.

Wuhans Bahnmanager haben dagegen mit der Auslastung ihrer Zugtransporte keine Probleme. "Wir haben das Containergeschäft diversifiziert und flexibilisiert, setzen Kühlcontainer für die Rückfracht von Milchprodukten aus Russland ein und richten uns nach dem Markt", sagt Logistiker Zhao. Er glaubt, dass alle Subventionen ohnehin in fünf Jahren auslaufen. Dann würde es zur Marktbereinigung kommen, nur noch wenige Inlandsstädte im Bahngeschäft nach Europa bleiben. "Wir sind darauf vorbereitet". Früher sei von drei losgeschickten Containern nur einer gefüllt zurückgekommen. Heute seien Rückfahrten zu 97 Prozent belegt. Das liege auch am lukrativen Handel mit Holz, das die Containerzüge in Russland zuladen. "Wir befördern pro Jahr in 100 Zügen Holz."

Wuhans Bevölkerung hat auch etwas davon. In 80 Supermärkten der Stadt werden mehr als 100 Konsumprodukte, die über die Züge importiert werden, zu moderaten Preisen angeboten. Babynahrung und Biere aus Deutschland sind darunter, Bordeaux aus Frankreich, Milch, Fruchtsäfte, Eiscreme und Spirituosen aus Russland.

Die Lokführer Han und Chen, die den neuen Frachtzug nach Westen nur fünf Kilometer weit kutschieren durften, können sich nun wenigstens kaufen, was der nach 20.000 Kilometern Fahrt hin und zurück wieder mitbrachte. (Johnny Erling aus Wuhan, 30.5.2018)