Für sie ist alles gutgegangen. Raffi Souhrada hat die Mathematik-Zentralmatura positiv bestanden – wie übrigens alle aus ihrer Klasse an der AHS Perchtoldsdorf im Wiener Umland. Österreichweit lief’s bei weitem nicht so gut wie für die 18-jährige Ex-Schülerin.

Mit Stand Freitag vergangener Woche, als rund zehn Prozent der AHS- und 15 Prozent der BHS-Maturaarbeiten an das Bildungsministerium rückgemeldet waren, war klar: Rund 18 Prozent davon wurden als "nicht genügend" bewertet.

Im Ministerium sah man sich veranlasst, erste Sofortmaßnahmen anzukündigen. Der Sukkus: Wer durchgefallen ist, soll für die mündliche Kompensationsprüfung am 5. und 6. Juni besonders gut vorbereitet werden. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

Die Ursachenforschung bezüglich der schlechten Mathe-Ergebnisse führt zwangsweise auch zur Frage nach der Aktualität der Lehrpläne.
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Dass das Problem tiefer liegt, ist aber auch den Experten im Bildungsministerium bewusst. Nicht zuletzt die Bildungsstandards in der vierten und achten Schulstufe zeigten regelmäßig, dass in Mathematik Handlungsbedarf bestehe und das Fach für viele "immer noch ein Angstfach" sei, erklärt Martin Netzer, der zuständige Abteilungsleiter. "Wir haben hier noch wichtige Entwicklungen vor uns" – etwa was die Qualifizierung der Lehrkräfte oder die Überarbeitung des Lehrstoffes anbelange. Dabei sei gerade im Bereich der Didaktik in den letzten Jahren einiges geschehen.

"Wir haben die Lehrpläne auf Kompetenzorientierung umgestellt", erklärt Netzer und gibt zu, dass früher die Lehrer nicht ausreichend vorbereitet gewesen seien. Mittlerweile seien die dafür nötigen Unterrichtsskills zwar seit fast zehn Jahren an den pädagogischen Hochschulen verankert, doch: "Das dauert, bis das ankommt. Wir sind hier noch mitten im ‚change process‘."

Mittendrin oder eher ein bisserl hintennach? So sieht das nämlich Andreas Vohns vom Institut für Didaktik der Mathematik an der Uni Klagenfurt. Sein Befund: Im Rahmen der Lehreraus- und -weiterbildung sei "leider verabsäumt" worden, deutlicher zu machen, "dass und wie Grundkompetenzen längerfristig solide erworben werden können, statt einfach nur Prüfungsbeispiele vergangener Jahre zu pauken". Für ihn ist klar: "Hier hat man die Pädagogen ein Stück weit alleingelassen."

Die Ursachenforschung bezüglich der schlechten Mathe-Ergebnisse führt zwangsweise auch zur Frage nach der Aktualität der Lehrpläne. Zehn Jahre beträgt die durchschnittliche Überlebensdauer eines solchen Wissenskanons. Etwa in diesem Rhythmus tagen Lehrer-Arbeitsgruppen zu den inhaltlichen Grundsatzentscheidungen, danach erfolgt eine Begutachtung durch externe Experten, und erst dann werden Änderungen festgelegt.

Manche Pädagogen wollen nur Papier und Bleistift erlauben.
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Wie schwierig es ist, dabei zu einer Einigung zu kommen, davon kann man im Ministerium ein Lied singen. Vor Jahren habe es etwa eine große Debatte über "Kegelschnitte" gegeben. Die Emotionen der leidenschaftlichen Mathematiker gingen hoch, schlussendlich setzten sich die Kegelschnittbefürworter durch. Sie sind bis heute Teil des Lehrplans.

Nicht nur Papier und Bleistift

Darüber, was wichtig ist, scheiden sich eben die Geister. "Wir bekommen immer noch E-Mails, in denen Lehrkräfte erklären, dass sie technische Hilfsmittel wie (das Softwareprogramm, Anm.) Geogebra ablehnen. Manche wollen nicht einmal einen Taschenrechner erlauben, sondern nur Papier und Bleistift", erzählt Netzer von seinen Korrespondenzen. Doch die einmal eingeschlagene Richtung will man im Ministerium nicht mehr verlassen: "Es ist wichtig, den Vorgang zu verstehen, aber man muss nicht immer wieder alles eigenhändig durchrechnen", hält Netzer ein Plädoyer für Kompetenzorientierung.

Ähnlich sieht das der Klagenfurter Didaktik-Experte. Andreas Vohns kann auch die Klagen darüber nicht teilen, dass bei der Zentralmatura Textverständnis gefragt war: "Später im Leben werden mathematische Fragestellungen sehr oft im Anwendungskontext erfordert sein." Vohns hat "durchaus Sympathien" für eine teilzentrale Lösung. Die Grundfrage laute: Was sollen Schüler können, und wie kommen sie dorthin?

Das verpflichtende Minimum könnte ein Stück heruntergefahren werden: "Wer will, kann zusätzlich individuell mehr Leistung zeigen." Vorausgesetzt, dass später an der Uni fehlendes mathematisches Wissen für bestimmte Studien nachgeholt werden könne. Ob der Lehrstoff insgesamt hinterfragt werden sollte? "Wer genau schaut, wird Stellen finden, wo weniger mehr wäre." Oder wo es "Zeit zum Vertiefen" brauche.

Genau die fehlt aber, weiß auch Rainer Saurugg. Der Mathematik-Nachhilfelehrer wundert sich nicht über die schlechten Zwischenergebnisse bei der Matura: "Das beginnt mit dem Umstieg auf die Oberstufe", erklärt er, "weil das Zentralmatura-Design plötzlich auf die fünfte Klasse runterprojiziert wurde." Das berge Vor- wie Nachteile: "Ich glaube, dass jetzt mehr hängenbleibt." Allerdings: Drei Mathestunden pro Woche würden für ein solch verständnisbasiertes Lernen nicht reichen.

Also noch mehr lernen? Erol Yildiz, Leiter des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck, warnt: "Alle stehen unter Stress: die Lehrer, die Schüler. Ich habe das Gefühl, dass das in den letzten Jahren zugenommen hat." Was müsse anders werden? "Zuerst gehört geklärt, welches Wissen vermittelt werden soll. Der Lehrplan muss entrümpelt werden. Dann müsste sich auch die Schule öffnen. Viele schauen ja aus wie Krankenhäuser."

"Fürs tägliche Leben reicht der Stoff der Volksschule", sagt Mathe-Nachhilfelehrer Rainer Saurugg.
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Das Bildungswesen neige zu einem "gewissen Strukturkonservativismus". Bildung habe aber nichts mit Normierung zu tun – bloß "genau die passiert ständig". Auch das Leben außerhalb der Schule müsse stärker einbezogen werden. Nur: "Wenn ich für die Organisation eines Schulausfluges Tage brauche, vergeht die Lust darauf." Yildiz hofft auf eine Reform: "Machbar ist das schon, wenn man will."

Im Kern gleich geblieben

Zu viel, zu schwer oder schlicht unnötig. Neu sind diese Kritikpunkte allesamt nicht, weiß Bernhard Hemetsberger vom Institut für Bildungswissenschaft an der Uni Wien. "Historisch betrachtet gibt es immer wieder Überfrachtungsdebatten. Das war in der Zeit der Napoleonischen Kriege so, in der Zwischenkriegszeit und auch in den 1950er-Jahren", sagt er.

Heute seien wir wieder in einer solchen Phase: "Die Frage lautet immer: Was soll Schule leisten? Was ist die Utopie, wie Schule aussehen soll?" Ein Blick in die Lehrpläne zeige: "Der Kern der Schule ist seit der Einführung der Schulpflicht unter Kaiserin Maria Theresia ei gentlich gleich geblieben", erklärt Hemetsberger. Wesentlich geändert hätten sich nur die Randfächer: So ist etwa Schönschreiben Teil des Deutschunterrichts geworden – und EDV ist dazugekommen.

Ernüchternd fällt die Antwort darauf aus, was an Schulwissen fürs spätere Leben wichtig ist – wenn man Mathe-Nachhilfelehrer Saurugg fragt: "Fürs tägliche Leben reicht der Stoff der Volksschule." (Peter Mayr, Karin Riss, 2.6.2018)