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Das Bundeshaus in Bern, Sitz des Schweizer Parlaments.

Foto: Reuters/Wermuth

Einer für alle, alle für einen: Die Kantone der Schweiz zieren die Kuppel des Bundeshauses in Bern.

Foto: Michael Vosatka

Immer wenn am ersten Maisonntag die Glarner Landsgemeinde zusammentritt, dann hat das Spektakel den Anstrich eines historischen Reenactments. Doch dies ist kein verstaubtes Schauspiel, sondern Ausdruck einer höchst lebendigen Demo kratie: Unter der Leitung des Landammanns treten die stimmberechtigten "Mitlandlüüt" des Kantons Glarus zusammen, um über Gesetze abzustimmen.

Die direkte Demokratie der Schweiz ist auf eine lange Tradition gebaut: Die Landsgemeinden lassen sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Natürlich entsprechen sie in mehrfacher Hinsicht nicht mehr den Anforderungen eines modernen de mokratischen Systems, weshalb sie mittlerweile vielerorts abgeschafft wurden. Neben den Wahlen steht den Schweizern heute ein ganzer Strauß von Werkzeugen zur demokratischen Mitbestimmung zur Verfügung. Außer obligatorischen und fakultativen Referenden gehören hierzu auch die Volksinitiativen – ein "Antrag aus dem Volk an das Volk". Aus österreichischer Sicht ist das System der direktdemokratischen Instrumente in der Schweiz exotisch. Wie kann der Bevölkerung zugetraut werden, sich bei komplexen Fragen eine Meinung zu bilden und zu einem sinnvollen Abstimmungsergebnis zu kommen?

"Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus", heißt es im ersten Artikel der österreichischen Bundesverfassung. Dennoch ist Österreich ein historisch gewachsener Untertanenstaat, jedenfalls im Vergleich zur Schweiz. Dort wird das Volk als Staatsorgan verstanden, das seine Rolle im politischen Prozess bei Wahlen, Referenden und Initiativen aktiv erfüllt. Traditionell entscheiden die Stimmberechtigten von der Gemeinde aufwärts alles selbst.

Am Sonntag haben die Schweizer mit der "Vollgeldinitiative" (siehe Artikel Mitte) wieder einmal über ein Thema zu entscheiden, das selbst für Experten in seinen Konsequenzen schwer fassbar ist.

Abstimmungsbüechli

Die Basisinformationen zu einer Volksinitiative werden im "Abstimmungsbüechli" zusammengefasst. Dieses stellt die wichtigste Grundlage für die Meinungsbildung dar und wird allen Stimmbürgern zugeschickt. Für die Erstellung des Heftes ist die Bundeskanzlei zuständig. Die Behörde hat die Thematik "sachlich", "transparent" und "verhältnismässig" darzustellen: Neben dem Gesetzestext, über den abgestimmt werden soll, wird detailliert beschrieben, worum es bei der jeweiligen Initiative geht und was die wesentlichen Argumente der Initianten und der Gegner sind. Ebenso wird die Position des Bundesrates und des Parlaments dargelegt. Die Vollgeldinitianten sind mit der Information zu ihrer Vorlage alles andere als zufrieden: Aus Protest gegen die "entstellte Karikatur" ihres Anliegens schredderten sie zuletzt die Abstimmungsbüechli medienwirksam auf dem Bundesplatz in Bern.

"Ganz ausgewogen ist die Information nie", sagt Corsin Bisaz vom Zentrum für Demokratie in Aarau im Gespräch mit dem STANDARD. In den vergangenen Jahren seien Probleme gehäufter aufgetreten. Früher sei es der Behörde untersagt gewesen, irgendeine Stellungnahme abzugeben, doch zuletzt habe sich die Haltung durchgesetzt, dass dieser selbst auch eine Rolle zukommt, erklärt der Staatsrechtler. Die Klagen der Initianten seien häufig nicht unberechtigt. Beim Bundesgericht werden deshalb vermehrt Stimmrechtsbeschwerden vorgebracht, welche aber selten erfolgreich sind. Dennoch kommt es vor, dass im Zuge einer solchen Beschwerde Korrigenda an alle Stimmberechtigten ausgesandt werden müssen. Oft würden die Initianten ihr Lamento über das Büechli aber als späte Mobilisierung kurz vor der Abstimmung einsetzen, um mit der Devise "Alle sind gegen uns" noch Wähler zur Teilnahme zu bewegen.

Eine zweite Initiative, über die am Sonntag abgestimmt wird, richtet sich gegen das neue Geldspielgesetz. Die Initianten kamen im Finish ihrer Kampagne ins Schleudern. Medien berichteten über Geldflüsse ausländischer Glücksspielbetreiber an die Gesetzesgegner. Kann also vom Ausland aus Einfluss auf Schweizer Urnengänge genommen werden? Bisaz zufolge ist eine Kontrolle diesbezüglich nicht sichergestellt, die Finanzierung von Volksini tiativen sei grundsätzlich nicht transparent. Er sieht dabei dennoch keine große Gefahr für die direkte Demokratie: Die Medien würden ihre Kontrollfunktion erfüllen, ein Nachweis einer ausländischen Finanzierung wie bei der Geldspielinitiative komme einem Todesstoß für die Vorlage gleich.

Irrelevante Fake-News

Dass via soziale Medien ver breitete Falschinformationen den Ausgang einer Volksabstimmung entscheidend beeinflussen könnten, hält Bisaz ebenfalls für unwahrscheinlich: "Das wage ich zu bezweifeln." Der Großteil der Debatten werde in der Zivilgesellschaft geführt, relevant für die Meinungsbildung seien auch die TV-Diskussionen. Oft sei gerade das Anheizen einer Debatte die eigentliche Zielsetzung der Initianten, auch beim Thema Vollgeld: "Wichtig ist es, dass darüber diskutiert wird", sagt Bisaz.

Die Wahrscheinlichkeit einer Zufallsentscheidung wie bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien sei relativ klein, Instrumente zur direkten Korrektur gebe es aber nicht: "Wenn die Entscheidung gefällt ist, wird die Verfassung angepasst." Allerdings nehme sich das Parlament bei der Umsetzung viele Freiheiten heraus.

Kann also der Bevölkerung tatsächlich gefahrlos die Entscheidung auch über die wichtigsten und komplexesten Themen überantwortet werden? Dazu meint Bisaz: "Nationalräte haben auch nicht unbedingt mehr Wissen als die Stimmbürger." (Michael Vosatka, 9.6.2018)