Sepp Dreissinger: Krista Fleischmann vom ORF wollte Sie nach dem Tod von Thomas Bernhard interviewen.

Karl Ignaz Hennetmair: Ich habe ihr gesagt: "Sie können mein Vorhaus filmen, den Tresor und die Bücher und all die Widmungen, die der Thomas mir geschrieben hat. Alles können Sie haben. Und auch den Raum, wo der Thomas gesessen ist, die Bank und den Tisch, wo wir den Büchnerpreis gefeiert haben, aber mich bekommen Sie nicht. Meine Stimme nicht und meinen Körper nicht." Da hat sie gesagt: "Aber Sie sind doch der Wichtigste, ich brauche Sie! Ich brauche Sie!" "Nein", habe ich gesagt, "weil ich habe ja keine Sprechzunge, ich habe eine Esszunge." Das hat sie geärgert.

Dreissinger: Im Film über Thomas Bernhard sind Sie dann gar nicht vorgekommen. Auch der Tresor nicht und auch sonst nichts. Sie hätte Sie ja wenigstens erwähnen können.

Hennetmair: Ja, sie hätte mich sogar erwähnen müssen! Wenn das der ORF ist, der ist ja zur Objektivität verpflichtet. Nur, wissen Sie, wie die dahergekommen ist, da kann man sich nicht auf etwas Seriöses einlassen! Sie ist ja auch gleich mit Vorwürfen gekommen, schon am ersten oder zweiten Tag nach dem Begräbnis. Eine der ersten Sachen, die sie zu mir gesagt hat: "Der Thomas ist zu Ihnen gekommen, er hat sich sozusagen bei Ihnen entschuldigt. Warum haben Sie das gemacht?"

Dreissinger: Was gemacht?

Hennetmair: Thomas Bernhard hatte ihr erzählt, dass er nach unserem jahrelangen Streit, das war ungefähr die Zeit, als das Buch Ja, in dem ich ja als Moritz vorkomme, gerade erschienen war, zu mir ins Haus gekommen ist und gesagt hat: "So, jetzt bin ich wieder da!" Da habe ich ihm gesagt: "Ich muss dringend wegfahren!" Er ist mir nachgegangen zum Auto und hat gesagt: "Warum fährst du vor mir weg?" Er hatte nämlich angenommen, dass ich seinen neuen Roman Ja, in dem ich als Moritz drin vorkomme, bereits kenne. Das war aber nicht der Fall. Ich habe das Buch noch nicht gelesen gehabt. Wenn ich das Ja schon gekannt hätte, wäre unsere Wiederbegegnung "naturgemäß" ganz anders verlaufen. Dann hätte man zu mir ins Haus wieder reingehen und sagen können: So, jetzt bin ich wieder da! Dann wäre das gegangen.

Dreissinger: Wann war das?

Hennetmair: Ungefähr drei Jahre nach unserem Streit. Aber ganz ehrlich gesagt: Meine Familie hat die drei Jahre gut gebrauchen können, um ein bisschen Erholung von Thomas Bernhard zu bekommen. Trotz allem Schönen war es manchmal schon sehr anstrengend mit ihm.

Dreissinger: Als Sie noch nicht den großen Bruch mit Thomas Bernhard hatten, sind Sie oft gemeinsam mit dem Auto in der Gegend Häuser anschauen gefahren.

Hennetmair: Ich habe ja immer viele Grundstücke und Häuser berufsbedingt angeschaut. Da hat mich der Thomas öfters gefragt: "Hast du nichts zum Anschauen?" Dabei wäre ich dutzende Male lieber zu Hause sitzen geblieben und hätte ein Objekt nicht angeschaut, weil ich von dem Haus, das mir angeboten worden ist, nichts gehalten habe. Aber da ist er schon wieder gekommen und hat gefragt: "Hast du nichts zum Anschauen?" Wenn ich Nein gesagt habe, wollte er, dass wir trotzdem irgendwo hinfahren oder wenigstens spazieren gehen.

Dreissinger: Warum wollte er sich immer etwas anschauen? Damit er etwas kauft?

Hennetmair: Nein, einfach weil er so neugierig war, und auch, damit er rauskommt und seine Abwechslung hat. Er wollte vor allem beobachten, wie ich dort agiere und mit den Leuten rede, die ein Haus verkaufen wollen. So ist er auch auf die Krucka gestoßen und auch auf das Haus in Ottnang. Ottnang hat er aber dann auch deswegen gekauft, damit die Ingeborg Bachmann, die auch ein Bauernhaus in dieser Gegend wollte, das der Residenz-Verlag ihr vorfinanziert hätte, das nicht bekommt. Er hat es gebraucht, weil es so abgelegen liegt, und wo er sich ganz verstecken konnte. Damals hat er ja auch die Krucka, das Bauernhaus bei Reindlmühl, schon gehabt, Ottnang war sein drittes Haus! Ist das nicht ein Wahnsinn? Ich habe gesagt: "Du hast ja kein Geld!" Da hat er gemeint: "Das Geld werde ich schon bekommen, ich rede mit dem Schaffler vom Residenz-Verlag." "Weißt du", hat der Thomas gesagt, "ich brauche den Druck, dann kann ich besser schreiben." Da habe ich mir gedacht: "Na gut. Für eine Fernsehaufzeichnung eines Theaterstückes haben sie beim ORF damals 150.000 Schilling gezahlt." Er hat aber gesagt: "Ich will 300.000!" Da haben sie gesagt: "So viel Honorar haben wir noch nie gezahlt. Das ist das höchste, mehr geht nicht." "Na", hat er gesagt, "dann müssen sie das halt zweimal senden, dann habe ich auch die dreihundert, aber die will ich gleich."

In erster Linie ist er aber auch mit seinen Sorgen zu uns gekommen. Wenn irgendetwas Spezielles zu organisieren war, da hat er immer mich gebraucht: für Behörden oder Bauverhandlungen oder wenn mit den Nachbarn etwas oder wenn es nur das Servitut von Holz war. Er hatte ja auf zwei seiner Häuser auch Forstbesitz. Da bekommt man alle Jahre drei Sorten Holz: Brennholz, Bauholz, Zeugholz. Wenn man das einmal nicht holt, bekommt man es später dazu, aber man muss das melden, dass man das erst nächstes Jahr will. Oder der Bergbauernzuschuss. Es ist halt so mit der Landwirtschaft, da ist immer etwas zu tun. Für die Krucka hat er den Bergbauernzuschuss bekommen, weil das so steil ist, und ja, hoch oben ist es auch. Bei diesen Sachen habe ich immer dabei sein müssen.

Dreissinger: Da waren Sie für ihn die erste Ansprechstation in der Gegend?

Hennetmair: Ja, auch weil ich ihm ja 1965 den Hof in Obernathal verkauft habe. Jetzt habe ich gedacht, ich kann ihn ja nicht mit dem Riesenhof, einen Kilometer von mir weg – Verzeihung – verrecken lassen. Ich habe ihm meine besten Handwerker zugebracht und die besten Lieferanten. Da muss man ihm schon den Tischler sagen, der noch einen Fensterflügel repariert und die Sprossen drinlässt, wenn ein anderer längst sagt: Das gehört weggeschmissen, da brauchen Sie neue Fenster! Da hat es ja nur einen Tischler gegeben in ganz Oberösterreich, der diese Anschauung gehabt hat, dass ein Fenster Sprossen haben muss! Das war ja schwierig, was glauben Sie denn! Die Handwerker sind zu mir gekommen und haben gesagt: "Das Gewölbe, das gehört heruntergeworfen, da kann man doch keine Küche hinstellen!" Da sage ich: "Seid Ihr narrisch?" In den Bauernhäusern haben sie damals überall in den Vorräumen und den Küchen und in den Nebenräumen die Gewölbe heruntergehauen, damit mehr Platz wird. Das in meinem Vorhaus hätten sie mir auch herunterschlagen wollen. Das war wie eine Seuche.

Die Putzerinnen, die für den Thomas in seinem Hof in Obernathal gearbeitet haben, hat er alle nach und nach verbraucht. Vor allem, wenn sie eine Vase oder ein Silbergeschirr oder seine Schuhe oder auch zum Beispiel ein Buch abgestaubt haben, das so auf dem Eck vom Tisch gelegen ist, und wenn sie das nach dem Abstauben fünf Zentimeter anders hingelegt hat, da war er schon böse. Das hat schon genügt. Drei Putzerinnen hat er sofort verbraucht, aber die, die wir ihm als letzte zugebracht haben, mit der hat er nicht streiten können, weil sie taubstumm war. Die hat sich gehalten. Ich hatte gehört, dass sie gern eine Arbeit annehmen würde, aber nichts bekommt, niemand wollte sie wegen ihrer Behinderung nehmen. Da habe ich mir gedacht: Für den Thomas passt das! Gerade das, was für andere der Nachteil ist, das ist da der großartigste Vorteil. Wie soll man sagen: Er hat für sie ein anderes Gefühl, er sieht sie anders als die anderen Leute. Sie wollte allerdings auch öfters aufhören. Er hat ihr aber dann auch mit der Zeit immer mehr bezahlt und ihr Geschenke gemacht, wenn er wieder einmal gemein zu ihr war. Er wusste ja selber, dass er gemein war. Das hat er immer zu mir gesagt: "Ich weiß, ich bin das größte Scheusal." Aber das hat ihm gefallen! Er wollte ja als Scheusal auch anerkannt sein.

Dreissinger: "Ich bin von Natur aus böse", hat er einmal in einem Interview gesagt.

Hennetmair: Na, sehen Sie! Er hat sich ja erkannt wie selten einer. Er hat ja genau gewusst, was los ist. Dem Wieland Schmied, dem hat er ja alles sagen können, mit dem hat er gut streiten können! Den hat er so tief beleidigen können, der ist nächstes Mal wieder gekommen, als wäre nichts gewesen. Bei mir hat er aber gewusst, da geht das Streiten nicht, da hat er es auch gar nie probiert. Ich habe immer schon gespürt, wenn er wieder jemanden zum Streiten gebraucht hat, da hab ich geschaut, dass irgendjemand kommt oder wenigstens sein Bruder, der Peter Fabjan, damit er sich für fünf Minuten austoben kann. Wenn der Schmied oder die Schmiedin oder sonst seine Bekannten, wenn die einmal irgendeinen Blödsinn geredet oder etwas behauptet hatten, was ganz gegen seine Ansicht war, wurde er gleich recht grob. Das hat zumindest immer so gewirkt mit seiner – ich will nicht sagen Übertreibung. Ich glaube, dass es falsch ist, wenn man beim Thomas Bernhard von Übertreibung spricht. Er hat das halt in dem Moment wirklich so krass gesehen. Die Unverschämtheiten haben ihn eben so stark beeindruckt, die haben so gewirkt auf ihn. Er hat ja nicht aus Spaß übertrieben. Ich hatte auch oft in Diskussionen mit ihm andere Ansichten als er, aber bei mir war er schonend. Er hat mir oft etwas nachgesehen. Das hätte ein anderer nicht sagen können oder nicht behaupten dürfen. Es hat sich nachher eh herausgestellt, dass das, was ich behauptet habe, falsch war. Im Nachhinein hat er immer recht gehabt, das war unglaublich! Auch bei den Nachrichten im Fernsehen hat er ganz etwas anderes herausgehört und gesehen als wir, und das hat er uns dann immer auch genau erklärt. Oft hat sich dann nach einem Monat oder zwei herausgestellt, dass es genauso war, wie er das schon vorher gesehen und gehört hatte. Er hat nie alles geglaubt und immer alles infrage gestellt, vor allem, was die Politiker im Radio oder im Fernsehen behaupteten.

Darum war das so lustig mit den Hirschkäfern. Das merkt man sich ja leicht, weil ein halbes Jahr haben wir dann immer im Radio gesagt: Das ist wieder so ein Hirschkäfer! Weil ja ein Philosoph in einem Buch geschrieben hat, dass die richtigen Hirsche eine Versammlung veranstaltet haben und der kleine Hirschkäfer geglaubt hat, weil er auch ein Geweih hat, er gehöre auch zu diesen Hirschen und zu dieser Versammlung gegangen ist, aber bei dieser Versammlung ist er in den Schmutz getreten und getötet worden. Und das war dann so, dass wir immer, wenn so ein Außenministerl oder irgend so ein Ministerl im Ausland war, dann hat er wieder gesagt: "Schau, ein Hirschkäfer!" Ich bin dann ganz zufällig einmal in seiner Literatur darauf gestoßen, wie ich in ein Buch vom Thomas so ein bisschen hineingeschaut und es durchgeblättert habe und auf einmal diesen Satz auf Seite 95 vom Untergeher lese: "Im Grunde bin ich nichts anderes als einer dieser gemeingefährlichen Aphoristiker, die sich mit ihrer grenzenlosen Skrupellosigkeit und mit ihrer heillosen Frechheit unter die Philosophen mischen wie die Hirschkäfer unter die Hirsche."

Dreissinger: Bernhard sagt: "Das Leben ist wie Rahmsuppe."

Hennetmair: Ja, das war seine Lieblingssuppe. Es gibt nichts Schöneres, als eine Rahmsuppe zu servieren, weil sie ihm bei uns am besten geschmeckt hat. Und so eine Knackwurscht – am besten in Essig und Öl und mit ein bisschen Zwiebel –, das war sein Lieblingsessen. Darum habe ich ihm, als er einmal krank war, eine Knackwurscht an die Tür hingehängt. Oder wenn er geschrieben hat, hab ich gewusst, er ist schon abgelenkt, wenn er mir nur anschaffen muss, dass ich ihm eine Knacker mitbringen soll. Dann kann er schon nicht mehr weiterschreiben. Er hat gesagt: "Dort schmeißt du sie mir hinein, weil sonst kann ich nicht schreiben, wenn du mich störst." Manchmal aber hat er mich auch abgepasst und gesagt: "Komm herein, und setz dich nieder! Nein, eine Sekunde noch, eine Sekunde noch! Bleibe noch!" Wir haben irgendetwas geredet, und dann bin ich gegangen, weil ich auch nicht ewig Zeit hatte und ich angenommen habe, dass er eh wieder weiterschreiben will. Oft waren ja schon die Mahnungen vom Verlag da, dass er das Manuskript liefern soll. Dann ist er aber nachmittags schon wieder zu uns gekommen und hat gesagt: "Weißt du, ich habe heute keine Zeile mehr geschrieben." Einmal hatte ich ein wichtiges Telegramm für den Thomas von der Post geholt. Anschauen habe ich die Telegramme immer dürfen, ich habe die sogar anschauen müssen, weil wenn das nichts Wichtiges ist, hätte ich ihm das gar nicht bringen dürfen. Das waren hauptsächlich Telegramme vom Suhrkamp-Verlag oder vom Residenz-Verlag oder wenn gerade irgendwo Proben waren, etwas von einem Regisseur oder einem Schauspieler. Da habe ich geklopft, wollte es ihm nur geben und hab gleich gesagt: "Pfiat di." "Nein, bleib da, hat er gesagt, jetzt ist es sowieso schon vorbei, ich kann heute sowieso nicht mehr schreiben, setz dich her!" Dann haben wir das Telegramm besprochen, dann war es schon aus. Also, die Störung, dass ein Telegramm da ist, hat genügt, dass er gesagt hat: "Da kann ich jetzt sowieso nicht mehr schreiben. Und aus."

Wenn es gar nicht mehr ging und er sich zu sehr gestört fühlte in der Gegend hier, hat Thomas gesagt: "Jetzt muss ich nach Brüssel zum Grafen Üxküll und seiner Frau fahren." Dort, hat er gesagt, kann er am besten schreiben. Dort hat er einen Raum gehabt, da war er ganz allein in der Wohnung, und da hat er das dann einfach hineingehauen in die Maschine. Dort hat er nicht spazieren gehen können und nicht die Gelegenheit gehabt, zu mir zu kommen; und war nicht abgelenkt, wenn er in einem seiner anderen Häuser war, oben auf der Krucka oder in Ottnang. Dort war es ja damals so: Wenn er aufgestanden ist, wo er auch hingesehen hat, hat er gedacht: "Aha, das Dach muss ich noch herrichten! Da will ich noch etwas ändern!" Da hat er dann nicht schreiben können. Und wie oft hat er seine Schreibmaschine eingepackt in den Rucksack und alles Notwendige vorbereitet und sich bei uns für fünf Tage verabschiedet. Ich sollte ihm die Post nur im äußersten Fall bringen. Ich musste ihm versprechen, dass ich ihn wirklich überhaupt nicht störe. Er hat das Essen mitgenommen und seinen Tee und alles, was er braucht, bis zum Klopapier. Alles hat er in den Rucksack in das Auto eingepackt und ist mit dem Auto weggefahren.

Dreissinger: Wohin ist er dann gefahren?

Hennetmair: Von Obernathal aus auf die Krucka oder auch nach Ottnang, je nach Laune. Und wir haben dann geglaubt, wir können uns ein bisschen erholen in dieser Woche. Da haben wir dann natürlich gleich weniger gekocht und haben uns gemütlich hergesetzt am Vormittag. Aber um elf Uhr war er schon wieder da. Das hatte ich schon befürchtet. Ich habe gesagt: "Du brauchst dich gar nicht verabschieden, ich weiß eh, du bist ja gleich wieder da!" Was die Schreibmaschinen betrifft: Die neueren hat der Thomas immer zusammengehauen, die haben das nicht ausgehalten, weil er so reingehauen hat. Im Dorotheum haben sie viele so alte Schreibmaschinen von der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die damals alle in den Büros verwendet wurden. Die waren noch massiv. Also sage ich zu ihm: "Damit du nicht dauernd die Maschine herumschleppen musst, kauf dir gleich mehrere, und lass in jedem Haus so eine Maschine stehen. In Nathal, da hat er zwei oder drei aufgestellt gehabt, damit, falls eine kaputt ist, es dann gleich weitergehen kann. Wenn er in Fahrt ist, dann braucht er eine Maschine, da kann er nicht das Schreiben unterbrechen und reparieren fahren.

Dreissinger: Wann haben Sie ihn kennengelernt?

Hennetmair: 1965.

Dreissinger: Also zehn Jahre lang eine enge Freundschaft?

Hennetmair: Ja, ich habe vom ersten Tag an alles gesammelt. Da hat er mir den Frost geschenkt, und das habe ich gelesen und seine "Tante" Hedwig Stavianicek, die ihn ja hoch geschätzt hat, hat mir gesagt, dass er so ein großartiger Denker und so ein großartiger Schriftsteller ist. Jetzt habe ich den Frost schon in Hinblick darauf, dass er so ein großer Denker ist, gelesen. Das macht schon etwas aus. Wenn die Kritiker ein solches Buch total runtermachen und das liest man dann in der Zeitung, das färbt ja ab. Dann kaufe ich mir den Frost und lese das, dann bin ich ja schon voreingenommen. Das erfordert aber so eine große Aufmerksamkeit – und die habe ich dann gar nicht mehr, weil ich mir denke: Das haben ja schon Gescheitere als ich vorher gelesen und beurteilt, da kann meine Meinung ja voll danebengehen. Da wundert es mich auch gar nicht, wenn jemand mit dem Bernhard nichts anfangen kann oder ihn nicht begriffen hat, wenn dauernd die negativen Kritiken in Massen herumschwirren.

Dreissinger: Eine hymnische Frost-Kritik hat Carl Zuckmayer beim Erscheinen 1963 in der Zeit geschrieben.

Hennetmair: Natürlich haben die draußen in Deutschland gut geschrieben und auch die Hilde Spiel, aber die Leute hier lesen ja da die Kronen Zeitung, und auch der Blaha hat fürchterlich über ihn geschrieben. Das lesen die Leute hier am Land in der Kronen Zeitung, und da braucht so ein Mensch das Buch nicht mehr zu lesen, der kauft sich das gar nicht mehr. Wenn hier drei Häuser sind, dann ist am Sonntag an der Straße eine Tafel aufgestellt, zum Beispiel: Weinberg liest Kronen Zeitung. Oder: Nathal liest Kronen Zeitung. Die Leute haben dann gewusst: Aha, der Bernhard, das ist ein Narr. Als wir einmal von Ottnang in Richtung Schwanenstadt gefahren sind, sagt er zu mir: "Ich muss noch in eine Eisenhandlung." Ich bleibe also stehen, und er sagt: "Geh du hinein!" Ich sage: "Warum?" Da meint er: "Weißt du, jetzt war wieder so ein Artikel in der Zeitung. Die Leute, die kennen mich schon, und unlängst habe ich gehört, wie hinten mir einer gesagt hat: 'Jetzt ist er wieder da, der Narr!'"

Dreissinger: Das Wort "Narr" hat er aber gern mögen, der Altersnarr war er gern.

Hennetmair: Wenn er da bei Ihnen bei seiner Widmung als "Viktor Halbnarr" unterschreibt, da hat er ja schon die Reife gehabt zum Narren. Bis man einmal so weit ist, dass man sich selbst als Narr oder Halbnarr erkennt, da gehört ja eine Reife dazu, die man ja mit dreißig oder vierzig Jahren noch nicht hat. Da will man ja noch kein Narr sein. Das sieht man erst später, dass man ein Narr ist. Er hat seine Kunstfiguren gemixt von dem, was in seiner Umgebung war. Manchmal war es dann nur der Name. Er hat mir aber auch gesagt: "Bei dem jüdischen Arzt in Verstörung, da ist auch ein bisschen was von dir dabei, und beim Fürst Saurau ist auch ein bisschen was von dir dabei." Oder: "Als ich diese Seiten geschrieben habe, da habe ich auch ein paar Mal an dich gedacht, da ist auch von dir etwas." Na ja, wo soll er das denn sonst auch hernehmen.

Dreissinger: Gerda Maleta schreibt jetzt auch ein eigenes Buch über den Bernhard!

Hennetmair: Er war von der Maleta so belagert. Sie hat ihn immer eingeladen: Da soll er kommen, dort soll er kommen! Meistens, wenn sie Besuch gehabt hat, da war er dann immer mit ihr als Vorzeigeschriftsteller in ihrem Haus dabei. Das hat er aber eigentlich überhaupt nicht wollen. Er hat sich nicht mehr erwehren können vor Einladungen von der Gerda Maleta. Sie ist ihm nachgelaufen. Wenn er sie nicht hineingelassen hat oder er war nicht da, dann ist ein Zettel von ihr an seiner Tür gewesen: Er solle ihr schreiben! Einmal hat er sich eine Glatze schneiden lassen, damit er sich nirgends mehr sehen lassen kann und so sein Buch besser fertigschreiben konnte. Mit der Glatze hat er sich bei ihr ja nicht anschauen lassen können! Erst als das Buch fertig war, ist er wieder gekommen, und sie hat ihn umarmt.

Wenn der Thomas bei uns vor der Haustür ein anderes Auto gesehen hat, da ist er gleich wie ein Igel mit Stacheln dagestanden. Das hat ihm nicht gepasst, wenn er kommt, und dann sind Fremde da. Er ist ja meistens mit dem Vorsatz gekommen, entweder etwas Wichtiges zu besprechen oder sich recht gut zu unterhalten. Ich habe ihm deshalb oft schon vorher gesagt: Morgen, wenn du um die und die Zeit kommst, ich sag dir das gleich, da haben wir Besuch. Und ich habe dem Besuch vorher gesagt: "Passt auf, ihr dürft nicht über das Thema Schriftsteller reden." Wenn aber trotzdem aus irgendeinem Grund eine Debatte in diese Richtung losgegangen ist, wurde es auf jeden Fall immer unmöglich. Die meisten Verwandten und Bekannten von mir, die hat er alle vergraust.

Dreissinger: Aber er konnte ja in Gesellschaft sehr witzig sein und hat ganze Runden unterhalten!

Hennetmair: Direkt Witze hat er ja überhaupt nicht erzählt, es war einfach witzig, wie und was er erzählt hat. Wenn die Omi gesagt hat: "Bernhard, haben Sie das schon gelesen?" Irgendetwas Entsetzliches, etwas ganz Außergewöhnliches, das in der Zeitung gestanden hat. Dann hat er gesagt: "Nein, wo steht denn das? Darf ich schauen?" Dann hat er uns das vorgelesen, umgeblättert und anschließend noch den ganzen Sport heruntergelesen. Und wie oft hat er uns hineingelegt! Wir sind ihm immer alle darauf reingefallen! Er hat Sachen aus der Zeitung herausgelesen, die er im Moment erfunden hat, Sachen, die aber auch stimmen hätten können. Und wenn die Omi "Jetzt dann aber…!" gesagt hat, da hat er dann absichtlich dick aufgetragen. Aber er hat das so gut gekonnt. Es ist unglaublich, dass man das fertigbringt, dass man jemanden so täuschen kann. Er hat ja auch oft etwas der Omi zum Nähen gebracht, so Kleinigkeiten. Da hat sich das dann so ergeben, dass auch sie ihm wieder irgend so einen Schabernack auf den Hut hinaufgesteckt hat. Und wir haben uns immer amüsiert, wenn er wieder da gestanden ist und nicht in den Ärmel oder in die Taschen hineinschlüpfen konnte, weil sie ihm die Omi aus Spaß ein wenig zugenäht hat.

Er hat uns aber auch bei den familiären Sachen beraten. Für unseren Sohn, den Wolf,i zum Beispiel, war er der Firmpate, und wie der Wolfi als Lehrling in Altmünster im Alpenhotel anfangen hätte sollen, da ist er extra mit der Margarete Hufnagl dorthin essen gegangen: Er hat gesagt: "Ich habe den Chef beobachtet, der ist so grob mit seinen Leuten! Das ist nichts für den Wolfi! Aber wenn er ein Zeugnis vom Gasteiner Hof hätte, dann gilt das mehr als ein Zeugnis vom Alpenhotel! Auf der ganzen Welt kennt man den Gasteiner Hof!" Da haben wir ihn nach Gastein gebracht. Und wie meine Tochter Reinhild nach der Matura nach Wien gefahren ist, da hat er sie unterstützt bei ihren Gängen, die sie hatte. Da haben die Hufnagl und Thomas ihr Tipps gegeben bei der Wohnungssuche.

Dreissinger: Ihr Tagebuch Ein Jahr mit Thomas Bernhard ist spannend. Hat er davon gewusst?

Hennetmair: Er hat mich sogar nach ein paar Monaten, als wir offen über meine Tagebuchaufzeichnungen gesprochen hatten, in der Form unterstützt, dass er ein Telegramm, das er mit nach Hause getragen und dort weggeschmissen hätte, einfach bei mir liegengelassen hat. Ich habe mir viele Notizen gemacht, aber die Zettel habe ich verschwinden lassen. Ich wollte nicht, dass er weiß, über welches Thema ich speziell schreibe. Auch nicht annähernd. Ich habe mir vor allem die Namen notiert. Meiner Frau habe ich gesagt: "Pass auf, wenn du siehst, ich habe da etwas hingeschrieben, gehst du einmal vorbei und nimmst es weg" – oder so ähnlich. Ich wollte überhaupt nicht, dass da irgendetwas beeinflusst wird. Er hat mir gesagt: "Wenn du so schreibst, wie du sprichst, dann wird das sehr gut!" Da habe ich mir gedacht: Na, anders kann ich eh nicht! Ich kann ja nicht anders schreiben, als ich spreche. Er hat auch gesagt: "Das wird dir eh niemand glauben! Diese Tagebücher und die Biografien, die werden ja immer gefälscht." Das ist wahr, die Biografien, da stimmen ja die meisten nicht. Sogar Wissenschafter sagen, dass mindestens fünfzig Prozent von allen Biografien, die veröffentlicht worden sind, fiktiv sind.

Dreissinger: Warum glauben Sie, dass Marcel Reich-Ranicki Ihr Tagebuch Ein Jahr mit Thomas Bernhard niedermachen würde?

Hennetmair: Wenn es der nicht ist, ist es halt ein anderer. Ich habe in der Zeit, als wir befreundet waren, alle Kritiken vom Reich-Ranicki wochenlang mit dem Bernhard besprochen. Diese Scheußlichkeiten, die da enthalten sind! Und wo er dann noch so frech ist und andere zitiert, die behauptet haben, der Autor Thomas Bernhard gehöre psychiatriert. Das hat er auch geschrieben. Die guten Kritiken, die über Thomas Bernhard geschrieben wurden, das sind nur wenige. Unter anderem von Wendelin Schmidt-Dengler und Hilde Spiel. Ich behaupte, dass der Reich-Ranicki mit seinen negativen Kritiken auch eine große Mitschuld gehabt hat, dass Bernhard den Nobelpreis nicht bekommen hat. Der war schon eingereicht, aber wenn die vom Komitee natürlich nachschauen, was der Literaturkritikerpapst in der Zeit schreibt – da werden sie gesagt haben: Na, mit dem fangen wir uns lieber nichts an! Und da ist er sozusagen durchgefallen. Sie können sich ja nur nach dem Literaturpapst richten, wenn sie da eine Beurteilung machen. Da hat der Bernhard keine Chance gehabt, der Ranicki hat ihm das vermasselt! Wenn der Ranicki einmal etwas schreibt über mich und mein Tagebuch, dann packe ich die Zeitung und hau ihm die um den Schädel. Dann sage ich, und das können Sie jetzt schreiben, dass ich Ihnen die Zeitung über den Schädel gehaut habe.

Ich habe einmal zu einem Universitätsprofessor gesagt, man müsste endlich einmal erforschen, wie man es anstellt, dass man aus der menschlichen Gesellschaft austreten kann, ohne Selbstmord begehen zu müssen. Das sollen sie erforschen! Da sagt er: "Würden Sie austreten wollen?" Ich sage: "Sofort!" Die einfachen Leute, die niederbombardiert werden und in jedem Krieg zum Handkuss kommen, haben keinen Einfluss auf das Weltgeschehen, aber die Wahnsinnigen regieren die Welt! Dauernd kommen nur die Wahnsinnigen! Der größte Wahnsinn spielt sich in Wien ab, in der Regierung. Da ist jedes einzelne Regierungsmitglied wahnsinnig! Wenn man die hört und sieht, merkt man, dass sie sich in keiner Phase bewusst sind, dass allein Bayern flächenmäßig größer ist als Österreich, und die spielen sich auf, als ob Österreich eine Weltmacht ist. Ja, aber nur eine kulturelle Weltmacht! Zu der Weltmacht, die Österreich darstellt, gehört ja nicht die Bundesregierung oder der Bundeskanzler oder der Außenminister – diese Weltmacht, das ist die österreichische Literatur und die Musik besonders! Auch was die Forschung anbelangt oder was die Museen und die Orchester betrifft, von mir aus auch die Sängerknaben und sogar die Lipizzaner, das ist alles einmalig auf der Welt! Aber das begreifen sie nicht, dass sie als Außenminister oder als Bundeskanzler diese Weltmacht nicht repräsentieren. Das verwechseln sie! Sie treten als Weltmacht auf, sind aber nichts.

Dreissinger: Es wird Zeit, wieder nach Wien zurückzufahren. Herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, mit mir über Ihre Bekanntschaft mit Thomas Bernhard geplaudert zu haben!

Hennetmair: Über Bernhard zu plaudern freut mich immer, und wenn man über den Bernhard redet, wird es immer spät. Das ist immer dasselbe, da kann man halt nichts machen. Ich wünsche Ihnen eine schöne Fahrt nach Wien. Ich gebe Ihnen noch meine Spezial-Wachhaltepastillen mit, da werden Sie und ihre Begleiterin sicher nicht einschlafen im Auto.