Jugendliche sind interessiert an Politik. Das erkennt man daran, dass Grundfragen der Demokratie einen zentralen Stellenwert in ihrem Alltagsleben einnehmen: Individuelle Autonomie, soziale Gerechtigkeit und Zusammenhalt sind für Jugendliche wesentliche Kategorien, um das eigene Handeln in seinen Möglichkeiten und Begrenzungen zu verstehen.

Kinder und Jugendliche werden tagtäglich in verschiedenen Kontexten mit Erfahrungen des Zwangs, der Ungleichheit und des Ausschlusses konfrontiert: in der Familie, in der Schule, im Freundeskreis, im Internet. Sie sind in all diesen Kontexten herausgefordert, Vorstellungen und Praktiken von Freiheit, Gleichheit und Solidarität für sich zu erarbeiten und in Interaktion mit anderen auszuloten. Ein funktionierendes demokratisches System, so die Erkenntnis der politischen Kulturforschung, benötigt eine solche Verankerung demokratischer Praktiken und Einstellungsinhalte im alltagskulturellen Leben der Menschen.

Wie zusammenleben?

Diese oft vernachlässigte Kontextualisierung von Grundfragen der Demokratie als zutiefst politischen und für Demokratieentwicklung zentralen Fragen stellt ein Projekt her, im Rahmen dessen Schülerinnen und Schüler an der Wiener Mittelschule und dem Oberstufenrealgymnasium Anton-Krieger-Gasse zwei Jahre lang forschen. Demokratie wird von uns allen gemacht, die großen demokratiepolitischen Fragen sind in den Alltag und in seine Praxis eingelassen, das ist die Ausgangsthese von "Making Democracy. Aushandlungen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität unter Jugendlichen".

Die Schülerinnen und Schüler setzen sich im Projekt "Making Democracy" mit Fragen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität in ihrem Alltag auseinander.
Foto: Sandra Kosel

Forschen zu Demokratie im Alltag

Indem "Making Democracy" an Alltagserfahrungen ansetzt, verschiebt das Projekt den Fokus der Demokratieforschung: Gefragt wird nicht nach dem Verhältnis Jugendlicher zum politischen System – insbesondere zu Wahlen und Parteipolitik –, sondern nach dem in der (Alltags-)Kultur verankerten demokratischen Wertekanon der Jugendlichen und dessen Bedeutung für demokratische Teilhabe und politisches Alltagshandeln.

Das methodische Ziel ist neben der aktiven Beteiligung der Jugendlichen eine produktive Verknüpfung sozialwissenschaftlicher Datenerhebungs- und Analysemethoden mit Methoden der kritischen Kunstvermittlung.

Demokratisches Handeln im Kleinen?

Die zentralen Fragen des Projekts lauten: Was heißt Zusammenleben in einer Gruppe, einer Familie, einer Klasse, einer Schule, einer Gesellschaft? In welchen Weisen stellen sich im täglichen Leben Fragen von persönlicher Autonomie und deren Einschränkung, von Gleichheit und Ungleichbehandlung, von Solidarität und Ausschluss? Und wie können demokratisches Handeln und Prozesse der Demokratisierung im Kleinen und Großen gestaltet werden?

Die Schülerinnen und Schüler aus zwei dritten Klassen haben diese Fragen bezogen auf ihren Alltag und ihre Interessen hin übersetzt: Sie fragen etwa, wie Freiheit und Schule zusammengehen oder welche Freiheiten Videospiele bieten, sie versuchen herauszufinden, warum es Mobbing gibt und was man dagegen tun kann, beschäftigen sich mit rassistischen Ausschlüssen oder der Entstehung von Armut und Reichtum.

Um ihre Fragen zu beantworten, haben die Jugendlichen Interviews geführt, Recherchen durchgeführt und in Forschungstagebüchern und Zines festgehalten, theatralische Szenen erarbeitet und Comics entworfen. Außerdem haben sie einen Forschungswagen gebaut, der den gesamten Prozess darstellt. Im Mai haben sie die Ergebnisse ihrer Forschungen und Reflexionen im Theaterhaus Dschungel Wien präsentiert.

Der von den Schülerinnen und Schülern gebaute Forschungswagen gibt Einblicke in ihren Forschungsprozess und ihre Ergebnisse.
Foto: Sandra Kosel

Ob Einspruch gegen Vorurteile – "Ich spreche in meiner Familie Türkisch, aber das sagt dir nichts über meine Familie" –, Aufstehen gegen Diskriminierung – "Verwende den Mob für den Boden, nicht für mich" –, Kritik an Anpassungsdruck – "Es ist schön, eine Ausnahme zu sein" – oder Kapitalismuskritik – "Geld gibt es nur, wenn alle dran glauben": Die Schülerinnen und Schüler haben den Raum auf vielerlei Weisen genützt, um für ihre Anliegen einzutreten und ihr Nachdenken über ein besseres Zusammenleben sichtbar zu machen.

Gemeinsam mit der Comic-Künstlerin Ka Schmitz haben die Jugendlichen Comic-Figuren gezeichnet und im Dschungel Wien ausgestellt.
Foto: Sandra Kosel

Keine Politikverdrossenheit

Es zeigt sich also, dass Jugendliche durchaus an Politik interessiert sind. Aber das politische System wird von vielen Kindern und Jugendlichen als unehrlich, konkurrenzgetrieben und starr erlebt und ist wenig interessant für sie. Und viele Entwicklungen auf internationaler Ebene machen ohnmächtig – sei es der Aufstieg von Donald Trump, der Krieg in Syrien oder der Klimawandel. Wo eine Beschäftigung mit Politik aber am Umfeld und Alltag der Kinder und Jugendlichen ansetzt, kann das eigene Handeln als wichtig erfahren werden und es können Perspektiven auf ein besseres Zusammenleben entstehen, indem sie erprobt werden.

Schülerinnen und Schüler der Klassen 3a und 3b der Anton-Krieger-Gasse nach ihren Performances im Dschungel Wien.
Foto: Sandra Kosel

Über diesen Ausgangspunkt der Thematisierung der eigenen Zugänge kommen wir auch manchmal zurück auf Fragen, die das politische System betreffen: Aushandlungsprozesse, Kompromisse und die Notwendigkeit des eigenständigen Denkens und der Einmischung. Oder wie es eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern in ihrer Theaterperformance ausgedrückt hat: "Politiker sind auch nur Menschen und schaffen nicht immer alles.", "Es gibt auch politische Konflikte, die nicht einfach zu lösen sind." Und: "Man sollte nicht das ganze Vertrauen in Politiker setzen, sondern lieber auf sich selbst bauen." Was wir hier in der forschenden Praxis mit Schülerinnen und Schülern erleben, ist, dass das politische System dann stärker Teil ihrer demokratiepolitischen Überlegungen wird, wenn wir über dessen aktuelle Beschränktheit hinausweisen und eine andere Praxis eröffnen. (Ines Garnitschnig, Elke Rajal, Oliver Marchart, 13.6.2018)