Eine amerikanische "Liberator"-Maschine geht im August 1944 in Flammen auf. Wer sich retten konnte, lief Gefahr, gelyncht zu werden.
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Es war der 4. März 1945, nur wenige Wochen vor der Kapitulation Deutschlands, als Charles Westbrook mit neun anderen Mitgliedern der US Army Air Force einen Bombenangriff auf Graz flog. Das Flugzeug wurde getroffen und stürzte ab. Sechs Besatzungsmitglieder konnten sich mit dem Fallschirm zu Boden retten, wo sie von einer aufgebrachten Menschenmenge umstellt wurden.

In Graz-Straßgang kommt es zur öffentlichen Hinrichtung: Ein SS-Mann erschießt zuerst zwei und später einen dritten US-Soldaten. Westbrook landet an einer anderen Stelle, wird ebenfalls von einer Menschenmenge abgefangen, durch die Straßen getrieben und von Wehrmachtssoldaten erschossen. Die zwei übrigen Besatzungsmitglieder sind bis heute verschollen.

Die Ehrenfahne der USA samt Porträt, die Westbrooks Familie überreicht wurde, befindet sich im Depot des Hauses der Geschichte Österreich, das am 10. November in der Neuen Burg am Wiener Heldenplatz eröffnet wird und sich auch der Eskalation der Gewalt in den letzten Kriegstagen widmen wird. "Die Familie hat sie uns aus Dankbarkeit für unsere Recherchen übermittelt", sagt Nicole-Melanie Goll. Die Historikerin befasst sich mit der Aufarbeitung eines weitgehend unerforschten Kapitels des Zweiten Weltkriegs: den Lynchmorden an alliierten Fliegern in der Endphase des Zweiten Weltkriegs.

Gezielte Misshandlungen

"Die Fliegermorde von Graz-Straßgang sind so etwas wie ein Musterbeispiel für die Gewaltexzesse, die gezielt durch die Gauleitung gesteuert wurden", sagt Goll. "Die Verbrechen geschahen nicht im Verborgenen, sondern in Anwesenheit vieler Schaulustiger, die durch NS-Funktionäre aufgestachelt wurden." Die abgefangenen Besatzungsmitglieder wurden geschlagen, erniedrigt, öffentlich zur Schau gestellt, misshandelt und vielfach ermordet. In Graz wurde 1945 eine Gedenktafel errichtet – die einzige bis zur Eröffnung der Gedenktafel für Walter P. Manning im vergangenen April (siehe hier).

In der letzten Kriegsphase nutzte die NS-Propaganda die Angst vor den immer intensiveren Fliegerangriffen der Alliierten und rief zu einer kollektiven Rache an den "Terrorfliegern" auf. "Die Piloten wurden als Verbrecher und Ungeheuer dargestellt, die Frauen und Kinder töten und Kulturgüter zerstören", schildert Goll. Im Mai 1944 erklärte die NS-Regierung Lynchjustiz offiziell als legitim. "Es wurde explizit zur Gewalt aufgerufen, ohne Konsequenzen für die Täter", sagt Goll.

Ausweise von US-amerikanischen Fliegern. Viele gelten immer noch als vermisst.
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Regulär sollten aufgegriffene Flieger sofort der Deutschen Luftwaffe übergeben werden, wo sie als Kriegsgefangene registriert und in entsprechende Lager interniert wurden. Doch nach der von Goebbels ausgegebenen Direktive entlud sich die durch die Propaganda hochgeschaukelte Aggression gegenüber den Alliierten immer öfter direkt an den gestrandeten Fliegern. Es war aber auch nicht unüblich, Kriegsgefangenentransporte kurzerhand in zuvor bombardierte Städte umzuleiten, um sie mit dem "Volkszorn" zu konfrontieren. So geschehen am 20. März 1945 in Amstetten, wo 15 US-Flieger auf dem Hauptplatz von einer Menschenmenge verprügelt wurden.

Hohe Dunkelziffer

Das Ausmaß der Verbrechen hat Goll nun erstmals so weit wie möglich rekonstruiert. Sie hat US-Archive, Gerichtsakten, Zeitzeugenberichte, Ortschroniken und mehr durchforstet und führt nun alle Fälle in einer interaktiven Datenbank zusammen. Die Bilanz: Insgesamt sind von den mehr als 5500 Crewmitgliedern, die über den heutigen Ländern Österreich und Ungarn abgeschossen wurden und es lebendig auf den Boden schafften, 480 einem Verbrechen zum Opfer gefallen – 136 davon wurden ermordet. 224 Personen sind bis heute vermisst.

"Es gibt eine hohe Dunkelziffer", sagt Goll. "Viele Verletzte wurden einfach nicht erstversorgt und zum Sterben zurückgelassen." Je nachdem, wie weit entfernt sie von bombardierten Orten landeten und mit welcher Person sie den ersten Kontakt hatten, gab es auch Fälle, in denen Flieger bewirtet und versteckt wurden. Andere schlugen sich zu den Partisanen oder zu den US-Stützpunkten in Italien durch.

Nach Kriegsende versuchten die US-Behörden zwar jeglichem Verdacht auf Kriegsverbrechen nachzugehen, scheiterten aber oft an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der hiesigen Behörden wie auch der Bevölkerung. Gerade 14 Fliegermordfälle hatten in Österreich ein gerichtliches Nachspiel. Von den 52 vor Gericht gestellten Personen wurde der Großteil bis 1951 freigelassen und begnadigt. Zwei Todesurteile wurden vollstreckt. Danach wurde es ruhig um die Lynchmorde.

Das Projekt, das von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Zukunftsfonds der Republik unter Mitarbeit von Peter Andorfer und Martin Kirnbauer realisiert wird, soll nun alle Schicksale der mehr als 8000 US- und britischen Besatzungsmitglieder nachzeichnen und grafisch visualisieren.

Es habe sich gezeigt, wie schwierig es für manche immer noch ist, Menschen zu gedenken, die Angriffe auf Österreich geflogen sind, sagt Goll: "Der Luftkrieg ist immer noch ein Rückzugsort der österreichischen Opferrolle." (Karin Krichmayr, 15.6.2018)