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In Russland herrscht große Euphorie nach dem gelungenen WM-Auftakt.

Foto: Reuters/SERGEI KARPUKHIN

Das Luschniki-Stadion birst förmlich, als Alexander Golowin in der 94. Minute mit einem direkten Freistoß über die Mauer hinweg den Ball zum 5:0 für Russland im WM-Auftaktspiel gegen Saudi-Arabien versenkt. Die meisten der 78.000 Zuschauer sind aus dem Häuschen, während in der Ehrenloge Präsident Wladimir Putin den saudischen Kronzprinzen Mohammed tröstend umarmt, sich aber – wie der Kreml später betonen wird – nicht für den Sieg entschuldigt. Auf der Ehrenrunde wird die Sbornaja euphorisch gefeiert.

Die Begeisterung an diesem Donnerstagabend ist keineswegs auf das zum reinen Fußballtempel umgebaute ehemalige Olympiastadion begrenzt. In den Fanzonen von Sotschi bis Kaliningrad liegen sich die russischen Fußballanhänger in den Armen. Selbst unter der Erde – in der Moskauer Metro, wo das Spiel übertragen wird – ist der Jubel riesig.

Russischer Karaoke-Hit

In einer Bar in der Moskauer Satellitenstadt Puschkino hat ein Witzbold den Song der bekannten Folkrockgruppe Tschaif aufgelegt: "Kakaja bol, kakaja bol; Argentina – Jamaika 5:0" (Welch ein Schmerz, welch ein Schmerz, Argentinien – Jamaika 5:0), heißt es da im Refrain. Das Lied, 1998 zur WM nach dem tatsächlich so ausgegangenen Spiel zwischen den beiden Teams geschrieben, war um die Jahrtausendwende der Hit in den russischen Karaokebars, und wenn die Russen die Zeilen schmetterten – meist mit schon etwas erhöhtem Alkoholpegel im Blut –, dann war da auch immer das Mitgefühl mit den lebensfrohen, aber hoffnungslos unterlegenen Jamaikanern herauszuhören. Es ist ein Schmerz, den die Russen nämlich zu gut selbst vom Fußball kennen. Denn zumeist war die Sbornaja auf der falschen Seite irgendwelcher Fußballfeste.

Bei der WM 2014 waren die Russen für das kleine Fußballmärchen Algeriens verantwortlich, indem sie selbst in der Gruppenphase scheiterten, bei der EM 2016 schafften die Waliser in der russischen Gruppe den Sprung – während die Russen erneut vorzeitig nach Hause fuhren.

Die Spötter

Als die Sbornaja im WM-Jahr ihre Freundschaftsspiele – von Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow hartnäckig als "Kontrollspiele" titulierten – Matches gegen Brasilien, Frankreich und schließlich auch Österreich verlor, bemühten nur Spötter den Vergleich mit Deutschland, das den Österreichern kurz darauf ebenso unterlegen war. "Schaut an, wir sind auf einer Ebene mit dem Weltmeister", witzelten sie, doch die Hoffnung auf ein erfolgreiches Abschneiden bei der WM war bei vielen Fans gering.

Nun jedoch ist die Euphorie gewaltig. "Ich tippe auf einen Sieg und ein Unentschieden in den nächsten beiden Vorrundenspielen", sagt Wjatscheslaw. Der 30-Jährige hat den Kantersieg der Sbornaja zum Start auf der Großleinwand in der Fan-Zone in Sotschi verfolgt. Wjatscheslaw ist nicht nur Fußball-Fan, sondern auch Leiter einer kleinen Werbeagentur. Mit Partnern besucht er insgesamt etwa ein Dutzend Partien während der WM, nur für das Eröffnungsspiel hat er keine Karten bekommen.

"Dafür bin ich in den nächsten beiden Partien in St. Petersburg gegen Ägypten und Samara gegen Uruguay live dabei", freut er sich. Seiner Ansicht nach kann Russland als Gruppenerster auf ein günstiges Los im Achtelfinale hoffen. Weiter will er vorerst nicht schauen. Die russische Politik ist da schon forscher: Der Leiter des Sportausschusses in der Duma Michail Degtjarew fordert bereits den Titel: "Nur Siege und keine Unentschieden. Wir zerfetzen alle und spielen offenen Fußball", sagte er nach dem Sieg. Russland solle nicht versuchen, aus der Abwehr zu spielen, sondern den gewonnenen Mut zum Angriffsfußball nutzen. "Russland kann ganz locker die Weltmeisterschaft gewinnen", so seine Prognose.

Tschertschessow droht

Tschertschessow selbst trat nach dem Spiel auf die Bremse. Er sei zufrieden, das Ergebnis sei aber etwas zu hoch ausgefallen. Nun werde er alles tun, um seine Spieler auf den Boden zurückzuholen, falls jemand abheben sollte, drohte er schon mal. Er mahnte, sich auf das nächste Spiel zu fokussieren.

Die Spieler müssen das auf jeden Fall, für die Fans ist nach der langen Durststrecke – der letzte Sieg bei einer Weltmeisterschaft datiert aus dem Jahr 2002 – zumindest derzeit noch das Träumen erlaubt. Wladimir Schachrin, Leadsänger der Gruppe Tschaif, hat auf dem Instagram-Account seiner Band den berühmten Refrain seines einstigen Straßenfegers zumindest schon einmal umgedichtet: "Uchodit bol, uchodit bol: Rossija – Saudowskaja Arawija 5:0" (Es vergeht der Schmerz, es vergeht der Schmerz: Russland – Saudi Arabien 5:0), sang er in die Kamera und bedankte sich bei den "Prachtkerlen" für das Spiel. (André Ballin aus Moskau, 15.6.2018)

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