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Satiriker sehen in Macron einen Präsidenten mit napoleonischem Gestus auf holprigen Wegen.

Foto: Reuters / Ralph Orlowski

Vor einem Jahr führte die Internetbewegung En Marche Emmanuel Macron in Frankreich an die Macht. Heute wird die Regierungspartei für ihren Personenkult rund um Macron kritisiert. Nicht ganz zu Recht.

Der französische Präsident herrscht allein im Élyseé. Wirklich allein ist Emmanuel Macron aber natürlich nicht. Er hat 400.000 "Marcheurs" (Marschierende) hinter sich. So nennen sich die Mitglieder von En Marche, jener Bewegung, die den jungen Ex-Banker im Mai 2017 in den Élysée-Palast geführt hat. Einen Monat später, am 18. Juni 2017, eroberte die blutjunge Formation selbst die Mehrheit von 312 Sitzen in der 577-köpfigen Nationalversammlung.

Der Marsch durch die Institutionen begann: Aus der Bewegung wurde die politische Partei La République en Marche (LRM). Einige bedauern diesen Wandel. Sie erinnern sich, wie ein paar unkonventionelle Idealisten in einem Loft des 15. Pariser Bezirks vor einem Jahr den Wahlkampf für Macron inszenierten. Es herrschte eine Stimmung wie in einem Bienenkorb, und niemand wusste, wie das Abenteuer ausgehen würde. Aber mit dem Handy in der Linken und Sushi-Stäbchen in der Rechten verbreiteten die Marcheurs über die sozialen Netze Macrons Heilsbotschaft: Frankreich brauche keine linken oder rechten Schlagworte, sondern neue Ideen und Energien.

Kein Ufo mehr

Mittlerweile ist LRM in die Rue Saint-Anne im schicken Pariser Opernviertel gezogen. Die Metamorphose ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich – aber sie ist radikal. Aus der jungen, horizontalen Internetbewegung, die in der französischen Politlandschaft wie ein Ufo gelandet war, ist eine straffe, vertikal organisierte Regierungspartei geworden.

Klickt man heute auf die Website, inszeniert sich als Erstes Parteichef Christophe Castaner in einem Videofilm. Der von den Sozialisten übergelaufene Politprofi war beim LRM-Kongress Ende 2017 der einzige Kandidat gewesen. Wegen mangelnder Auswahl hatten daraufhin hundert Marcheurs ihren Austritt erklärt. Sie kritisierten den zunehmenden "Personenkult" um den Präsidenten – nicht weil sie gegen Macron wären, sondern aus politischer Überzeugung.

"Das war nicht demokratisch", meint auch Rémi Bouton, ein Alleinunternehmer aus Paris. Vor einem Jahr hatte er im Gespräch mit dem STANDARD erklärt, warum er En Marche beigetreten sei: Frankreich müsse Egoismen und Partikularinteressen überwinden und wieder zum Vorrang des Allgemeinwohls zurückfinden. Diese Erkenntnis war das Resultat langer Debatten im lokalen En-Marche-Komitee, das Bouton im 14. Stadtbezirk aufgezogen hatte. Der energische Autor und Organisator hat der Partei nicht den Rücken gekehrt. Aber er beklagt, dass die Mitglieder "keine Handhabe mehr haben, auf das Parteileben einzuwirken". Die Themen würden von oben gesetzt, die Debatten durch die Macron-Berater im Élysée gesteuert, bedauert Bouton.

Gut geölte Wahlmaschine

Vielleicht war En Marche von Anfang an ein Missverständnis. Die Bewegung mit den Initialen von Emmanuel Macron war nie eine basisdemokratische Bürgerinitiative, sondern eine gut geölte Wahlmaschine im Dienste ihres Gründers. In der Fünften Republik Frankreichs, dieser verkappten Wahlmonarchie, sind die Parteien vorab Rennställe der Präsidialkandidaten. Macrons En Marche machte da keine Ausnahme.

Ist sie also auch nur Teil der alten Pariser Parteischule? Strukturell sicher. Doch da sind auch die Marcheurs. Zehn Prozent von ihnen bezeichnen sich laut Umfragen als aktiv. Zu ihnen zählen die 312 Abgeordneten von LRM. Sie werden als willfährige Manövriermasse in der Hand des Präsidenten gescholten. Bei den wichtigen Reformen des Arbeitsmarktes, der Staatsbahn SNCF oder des Asylrechts scherten allerdings einige LRM-Vertreter in der Nationalversammlung aus.

Einige haben sich mit ihrem Aufstand gegen den eigenen Präsidenten einen Namen gemacht. So etwa Sonia Krimi, die sich gegen die von ihrer Regierung lancierte Verschärfung des Asylrechts einsetzt. "Wir können in der Migrationsfrage keine Vogel-Strauß-Politik betreiben", sagte die aus Tunesien stammende LRM-Abgeordnete jüngst. "Frankreich hätte das Migrantenschiff Aquarius selbst aufnehmen sollen."

Die politische Debatte hat sich in Frankreich seit einem Jahr auf allen Ebenen – in den Gemeinden, im Parlament, im Fernsehen, vielleicht auch am Familientisch – stark verändert: Man diskutiert sachbezogener und offener, engagiert, aber ohne ideologische Scheuklappen. Neben rechten und linken Argumenten hört man heute oft neue, überraschende Standpunkte. Und das ist nicht so sehr das Verdienst Macrons, sondern das der 400.000 Marcheurs. (Stefan Brändle aus Paris, 17.6.2018)