Im Zuge der Nulltoleranzpolitik der US-Regierung werden systematisch alle Menschen, die ohne Visum die Grenze zwischen den USA und Mexiko überqueren, festgenommen. Da Kinder nicht mit den Eltern inhaftiert werden dürfen, werden die Familien auseinandergerissen.

Seit Mitte April wurden nach Angaben des US-Innenministeriums rund 2.000 Kinder an der Grenze von ihren Familien getrennt. Die Kinder werden in Auffanglager oder zu Pflegefamilien geschickt. US-Präsident Donald Trump will damit Migranten abschrecken. Null Toleranz lautet die Devise auch gegenüber Kindern. Die Bilder, die in den letzten Tagen durch die Medien gingen, sind dramatisch. DER STANDARD hat mit zwei Kinder- und Familientherapeutinnen über die psychologischen Effekte der gewaltsamen Trennungen auf Kinder gesprochen.

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Traumatische Ereignisse

Elvina Gavriel ist klinische und Gesundheitspsychologin und systemische Familientherapeutin an der Wiener Kinder- und Jugendambulanz am Schwedenplatz. In ihrer therapeutischen Praxis begleitet sie auch minderjährige Flüchtlinge, die allein nach Österreich reisen und hier Schutz und Sicherheit suchen. "Es ist indiskutabel, dass die Trennung von den Eltern bei Kindern zu anhaltenden Traumata führen kann und massive seelische Schäden sowohl bei den Kindern als auch bei den Eltern hinterlassen kann", sagt sie. Schutz und Sicherheit gehören zu den wichtigsten Grundbedürfnissen der Menschen. Wenn Kinder erleben, dass sie nicht ausreichend durch ihre Eltern beschützt werden können, würden sie auch das Vertrauen zu ihren Eltern verlieren, so Gavriel.

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Im Zuge der restriktiven Einwanderungspolitik der USA kommt es zu Familientrennungen an der Grenze.
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Ähnlich sieht das Céline Dörflinger. Sie ist Psychotherapeutin am Wiener Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende Hemayat und arbeitet in eigener Praxis mit traumatisierten Menschen. Je jünger ein Mensch ist, umso leichter kann er traumatisiert werden, sagt sie. Neben Ängsten, Stress und depressiven Verstimmungen könne sich ein Trauma bei Kindern sowohl auf die Lebensfunktionen, etwa in Form von Schlafstörungen und Appetitlosigkeit, als auch auf das Sozialverhalten auswirken. Sie reagieren dann mit Aggression oder Rückzug auf die Situation. Bei älteren Kindern komme es zudem zu selbstverletzendem Verhalten und Desinteresse an der Zukunft. "Manche Symptome lassen sich aber nicht von außen erkennen", sagt Dörflinger.

Unzureichende Bewältigungsstrategien

Kinder würden noch nicht über ausreichende Bewältigungsstrategien verfügen, weder sprachlich noch intellektuell. "Nicht jedes Kind hat für seine Gefühle und Emotionen ein passendes Vokabular, oft fehlt es ihnen an Wortschatz, um die Gefühle sowie das Bedürfnis nach Sicherheit, Verbindlichkeit und Geborgenheit auszudrücken", sagt Psychologin Gavriel.

Nach der Familientrennung kommen Minderjährige in Auffanglager.
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Ob Kinder diese Trennungen, welche wir medial aktuell mitverfolgen, ohne therapeutische Unterstützung bewältigen können? Gavriel: "Meiner Meinung nach benötigen nicht nur Kinder, sondern auch die Eltern eine therapeutische Begleitung. Denn bei Kindern können durch solche Erlebnisse massive Trennungs- und Verlustängste, fehlendes Sicherheitsgefühl sowie Misstrauen gegenüber Menschen entstehen. Eltern können vor allem Schuldgefühle und Selbstvorwürfe plagen, die Kinder in so eine Gefahrensituation reingebracht zu haben."

Und Céline Dörflinger fügt hinzu: "Wichtig für Kinder als auch für Erwachsene ist nach traumatischen Erlebnissen eine sichere und schützende Umgebung." Die Bewältigung eines Traumas hänge auch von der Dauer und dem Ausmaß der Traumatisierung, den kognitiven Bewältigungsmöglichkeiten und sicheren Lebensumständen ab. Generell gilt: Je stabiler die Persönlichkeit und die Lebenssituation, desto eher kann ein Mensch ein traumatisches Ereignis verarbeiten und in sein Leben integrieren, so Therapeutin Dörflinger. (Christine Tragler, 20.6.2018)