Bildungsminister Heinz Faßmann schreitet wohlgemut aus. Die Richtung, in die er marschiert, ist gelegentlich umstritten.

Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

In der österreichischen schulischen Folklore gilt die alte Faustregel: Die erste Hälfte der Ferien gehört dem dolce far niente – die Schule ist tabu, und es darf ohne Einschränkungen mit der Seele gebaumelt werden.

In der zweiten Ferienhälfte sollen sich die Schüler wieder allmählich mit der Tatsache vertraut machen, dass im September ein neues Schuljahr beginnt, nach dem grob vereinfachten Muster: zwischen dem Herumspielen mit dem Handy und dem Badengehen jeden Tag ein paar Mathe-Beispiele und ein paar englische Sätze mit unregelmäßigen Verben.

Wie aber sehen die Ferien eines Bildungsministers aus? Selbstverständlich steht es auch einem Spitzenpolitiker zu, im Sommer seine persönlichen Batterien wieder aufzuladen. Für Minister Heinz Faßmann gäbe es die hervorragende Gelegenheit, das Erholsame mit dem Nützlichen zu verbinden: Urlaub in Frankreich. In kaum einem anderen europäischen Land wird Bildung so ernst genommen wie in der Grande Nation, die für den österreichischen Bildungsminister neben Rotwein und Käse auch ein paar heilsame bildungspolitische Lektionen bereit hätte.

Fünf Einheiten

· Lektion 1 Gleich nach der Ankunft am Pariser Flughafen Charles de Gaulle würde Minister Faßmann im Buchladen in der Sektion "Neuerscheinungen" auf das Buch "Construisons ensemble l'École de la confiance" (Bauen wir gemeinsam eine Schule des Vertrauens) von Jean-Michel Blanquer, dem französischen Bildungsminister, stoßen, das dort in erstaunlich großer Stückzahl aufliegt. Wie viele seine Vorgänger hat Minister Blanquer im ersten Jahr seiner Amtszeit in der Regierung Macron seine Visionen und Aspirationen in einem Buch zusammengefasst, das Lehrern und Eltern die Möglichkeit bietet, nachzuvollziehen, wofür er steht und was ihm wichtig ist.

Wofür steht Minister Faßmann? Als politischer Quereinsteiger hat er bisher versucht, einzelne Maßnahmen aus dem Koalitionsabkommen, allen voran die unglückseligen "Deutschförderklassen", abzuarbeiten – ohne besondere Überzeugungskraft und häufig defensiv argumentierend. Minister Faßmann könnte sein Amt in Zukunft sehr viel glaubwürdiger und kompetenter ausüben, wenn er sich nach einem Zwischenstopp in Paris in die Provence oder in die Auvergne zurückziehen würde um sich in einem schönen schattigen Garten darüber klarzuwerden, was sein pädagogisches Credo ist, mit welchen wissenschaftlichen Befunden sich dieses absichern lässt und mit welchen Umsetzungsproblemen bei Reformen zu rechnen ist.

· Lektion 2 Wenn schon in Paris, sollte Herr Faßmann unbedingt einen Abstecher zur OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) machen. Die Bildungsabteilung der OECD ist der weltweit größte Thinktank der Bildungsforschung und Schulentwicklung, zugleich eine Art internationales Nachhilfeinstitut für Bildungsminister. Sicher würde ihm Andreas Schleicher, der Leiter der Bildungsabteilung, sein ebenfalls soeben publiziertes Buch "World Class – How to Build a 21st-Century School System" überreichen, eine ausgezeichnete Zusammenfassung all jener reformstrategischen Maßnahmen, die sich in den vergangenen Jahren als förderlich für die Verbesserung von Schulsystemen erwiesen haben.

Falsche Mythen

Ein Schlüsselkapitel darin beschäftigt sich mit der Widerlegung populärer, aber falscher pädagogischer Mythen, etwa jener, dass frühe Auslese die Leistungsfähigkeit von Schulsystemen fördert. Der nüchterne Befund Schleichers: "Keines der Länder, in denen Kinder früh ausgelesen werden, gehört zur Gruppe der erfolgreichen Schulsysteme."

· Lektion 3 Wie nirgendwo sonst in Europa würde dem Minister in Frankreich klarwerden, wie erbärmlich das österreichische Gerangel um die Ausweitung der vorschulischen Bildung ist. Frankreich hat seit Jahrzehnten ein bestens ausgebautes System von Vorschulen: gratis, nach zentralen nationalen Vorgaben gut ausgestattet, mit einem nationalen "Lehrplan" und hochschulisch ausgebildeten Lehrerinnen. Schon jetzt besuchen 98 Prozent der französischen Dreijährigen (auch wenn die Mütter nicht berufstätig sind) freiwillig die École maternelle. Präsident Macron hat vor kurzem angekündigt, dass ab September 2019 der Vorschulbesuch für alle Kinder ab drei Jahren obligatorisch werden soll; er sieht darin eine Bekräftigung der französischen Bemühungen um Chancenangleichung und soziale Integration.

· Lektion 4 UPE2A. Die Franzosen sind Weltmeister im Erfinden von Abkürzungen, und sie machen bei der Beschulung von Immigrantenkindern ohne französische Sprachkenntnisse keine Ausnahme: "UPE2A" steht für "Unité peédagogiques pour élèves allophones arrivants".

Während sich Minister Faßmann mit seinen "Deutschförderklassen" in eine segregierende Sackgasse manövriert, gilt in Frankreich für fremdsprachige Schüler von Anfang an und nachdrücklich das Prinzip der Integration in eine normale Regelschulklasse, die durch mindestens neun Wochenstunden intensiven Französischunterrichts in einer UPE2A ergänzt wird.

Eine Vorgangsweise wie die französische beruht nicht, wie der Geograf Faßmann glaubt, auf "Sozialromantik", sondern auf Forschungsergebnissen der "schulischen Sozialisation": Die französische Sprache und die Werte, Normen und Regeln des französischen (Schul-)Lebens sollen nicht allein durch "Belehrung" eines einzelnen (Sprach-)Lehrers, sondern durch die vielfältige, authentische Teilhabe am normalen Schulbetrieb erworben werden, für die alle Lehrer der Schule mitverantwortlich sind.

Dazugehören

Fremdsprachige Immigrantenkinder machen in Frankreich die existenzielle Erfahrung, dass sie "dazugehören"; in Österreich müssen sie sich den Status der Zugehörigkeit erarbeiten, denn der "heimliche Lehrplan" der Aussonderung in Deutschförderklassen lautet: "Du bist vorerst einmal keine/r von uns."

· Lektion 5 In Frankreich überlässt man das Lernen in den Ferien nicht dem Zufall. Würde Minister Faßmann in seinem französischen Urlaubsort den Supermarket oder die Buchhandlung aufsuchen, würden ihm mächtige Stapel von Publikationen auffallen, die es in Österreich nicht gibt: die "Cahiers de vacances". Alle großen französischen Verlage produzieren diese am nationalen Lehrplan orientierten Lernhilfen für die Ferien, in denen in mehr oder weniger "lustbetonter" Form, das heißt, angereichert mit Rätseln, Comics und Selbsttests, der Lernstoff des abgelaufenen Schuljahres zum selbstständigen Durcharbeiten aufbereitet ist. Ab Juni gehen diese Lernhilfen in den Läden weg wie die warmen Semmeln (Pardon – wie "baguettes fraiches").

Bereitgestellte Lernhilfen

In bildungsnahen, ambitionierten Familien werden die "Cahiers de vacances" offensichtlich zielstrebiger und ehrgeiziger eingesetzt als in anderen, aber es gibt Städte und Gemeinden, die diese Lernmaterialien – von wegen "egalité" – bedürftigen Kindern im Rahmen von kommunalen Ferienaktionen bereitstellen.

Die Ernsthaftigkeit des Bildungsbetriebs hat den Franzosen allerdings nicht den Humor ausgetrieben. So hat die Comédie-Française vor kurzem in Fontainebleau ein Auftragswerk mit dem vielversprechenden – auf Deutsch übersetzt – Titel "Griechische Tragödie für all diejenigen, die bisher keine Lust auf griechischen Tragödien hatten" aufgeführt. Und neben dem Eingang eines Forschungsgebäudes der Pariser Sorbonne Nouvelle findet sich die wunderbar subversive kleine Gedenktafel: "Hier wohnte eine Frau, die nie die Chronologie der französischen Könige auswendig konnte." (Karl Heinz Gruber, 23.6.2018)