Wenn Fürsorglichkeit zu viel wird: Eltern, die ihr Kind permanent sorgenvoll umkreisen, nennt man Helikopter-Eltern.

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STANDARD: Helikopter-Eltern wollen ihre Kinder auf Schritt und Tritt behüten. In Ihrer Studie konnten Sie zeigen, dass Kinder, die bereits in sehr jungen Jahren von ihren Eltern permanent überwacht werden, Schaden nehmen. Inwiefern ist Überfürsorglichkeit schädlich?

Shanahan: Unsere Studie zeigte, dass schon Eltern von Zweijährigen ihren Kindern einen gewissen Grad an Unabhängigkeit erlauben sollten, wenn es darum geht, altersgerechte Probleme zu lösen, etwa wie man mit einem neuen Spielzeug spielt oder wie man nach dem Spielen aufräumt. Es ist wichtig, dass Kinder die Möglichkeit haben, den Umgang mit neuen Herausforderungen und auch Frustrationen zu erlernen, wobei die Eltern durchaus helfen können, wenn die Herausforderungen für ein zweijähriges Kind zu schwierig oder zu komplex werden.

STANDARD: Können Sie ein Beispiel nennen, bitte?

Shanahan: Eltern können zum Beispiel mit dem Kind Strategien diskutieren, wie man diese Probleme lösen könnte. Wenn Eltern zu kontrollierend sind und intervenieren, bevor Kinder überhaupt die Möglichkeit haben zu versuchen, Probleme und Schwierigkeiten zu bewältigen, kann es sein, dass das Kind fundamentale Fertigkeiten der Emotions- und Verhaltensregulation nur ungenügend erlernt. Das könnte wiederum zukünftige Schwierigkeiten im schulischen, sozialen, und emotionalen Bereich hervorrufen.

STANDARD: Überfürsorgliche Eltern wollen alles für ihr Kind tun und mischen sich in vieles ein. Hat diese Haltung auch positive Effekte auf Kinder?

Shanahan: Fürsorgliche Eltern sind natürlich weiterhin ein wichtiger Baustein einer gesunden Kindesentwicklung. Wenn sich Eltern jedoch zu viel einmischen und ihren Kindern zu wenig Raum für die eigene Entwicklung geben, indem sie es dem Kind beispielsweise nicht ermöglichen, auch mal Fehler zu machen und aus eigener Erfahrung zu lernen, dann könnte es problematisch werden. Das heißt aber nicht, dass sich Eltern in spezifischen schwierigen Umständen nicht für ihr Kind starkmachen sollten. Wenn das Kind von Mobbing in der Schule betroffen ist, sollten die Eltern unbedingt intervenieren, um diese schädliche Dynamik zu unterbrechen. Das würde ich als fürsorgliches – und nicht als überfürsorgliches – Elternverhalten bezeichnen.

STANDARD: Wie wirkt sich eine Helikopter-Erziehung langfristig aus, wenn Kinder keine Gelegenheit bekommen, sich allein zu bewähren?

Shanahan: Unsere Studie zeigte, dass Zweijährige mit überkontrollierenden Müttern drei Jahre später im Durchschnitt mehr Schwierigkeiten hatten als andere Kinder, in komplexen und herausfordernden Situationen ihre Emotionen und Impulse zu regulieren. In den USA stehen die Kinder in diesem Alter kurz vor dem Schuleintritt. Schwierigkeiten mit der Regulation von Emotionen und Verhalten waren wiederum mit Schwierigkeiten im schulischen, sozialen und emotionalen Bereich im Alter von zehn Jahren assoziiert, also acht Jahre nach der Messung des Elternverhaltens.

STANDARD: Warum wird diese Überfürsorglichkeit besonders mit Schuleintritt problematisch?

Shanahan: Die Schulwelt stellt Kinder vor viele komplexe neue Anforderungen an Emotions- und Verhaltensregulation. Es gibt viele neue Normen und Regeln zu beachten und Frustrationen zu bewältigen. Wenn Kinder wichtige Grundlagen der Selbstregulation im Kontext eines überkontrollierenden Elternhauses nicht erlernen konnten, dann könnte sie dies vor langfristige Schwierigkeiten in ihrem Schulleben stellen. Längerfristig ist es möglich, dass Jugendliche im Kontext von überkontrollierendem Elternverhalten nicht gut auf den Übergang in ein selbstständiges Erwachsenenleben vorbereitet sind, aber das konnten wir in der gerade veröffentlichten Studie noch nicht testen, weil die Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch zu jung waren.

STANDARD: Ist die Überbehütung ein Randphänomen oder längst gängige Praxis?

Shanahan: Das kommt sicher unter anderem darauf an, in welchem kulturellen Kontext die Eltern leben. Zum Bespiel ist mein Eindruck, dass Kinder aus ähnlichen sozioökonomischen Schichten in den USA wesentlich behüteter sind als in der Schweiz. Allerdings sind die USA auch ein Land, in dem Kinder mehr Gewalttaten und Kriminalität ausgesetzt sind. Also müssen die Eltern auch mehr Schutzfunktionen übernehmen. In unserer Studie wurden Eltern innerhalb einer Stichprobe im US Bundesstaat North Carolina miteinander verglichen. Kinder von Eltern, die – innerhalb ihres kulturellen Umfeldes – am überkontrollierendsten waren, hatten später mehr Selbstregulationsschwierigkeiten und schulische, soziale, und emotionale Probleme.

Selbstregulation wiederum ist eine fundamentale Fertigkeit, die weitreichende Folgen für die Entwicklung in verschiedenen Bereichen haben kann. Zum Beispiel zeigen einige unserer neueren Forschungen, dass sich Selbstregulation nicht nur auf die Entwicklung der psychischen Gesundheit, sondern auch auf die Entwicklung der körperlichen Gesundheit auswirken könnte.

STANDARD: Betrifft das nur die Eltern, oder sind auch Kindergartenpädagogen und Lehrerinnen mittlerweile überfürsorglich?

Shanahan: Ich denke, auch hier muss man wieder das kulturelle Umfeld beachten. Nach meinen zwei Jahren in der Schweiz ist mein bisheriger Eindruck, dass Kindergartenpädagogen und Lehrerinnen nicht überfürsorglich sind. In der Schweiz ist es eine wichtige Erwartung an die Kinder, schon im frühen Schulalter allein zur Schule zu gehen oder auch mal allein zu Hause zu bleiben oder einkaufen zu gehen. So etwas ist in den USA eigentlich gar nicht möglich. Es ist in einigen Bundesstaaten sogar gesetzlich untersagt und könnte strafrechtlich als Kindesvernachlässigung verfolgt werden. Es ist meist so, dass in der Schule neue und andere selbstregulatorische Anforderungen an die Kinder gestellt werden als zu Hause. Somit ist der Schulkontext ein weiterer wichtiger Einfluss auf das Erlernen von Selbstregulation. (Christine Tragler, 3.7.2018)