Auch vor bisher unantastbaren Symbolen wird nicht haltgemacht: ein beschädigtes Porträt des Gründers der schiitischen Dawa-Partei, Ayatollah Mohammed Baqir al-Sadr.

Foto: APA/AFP/Hamdani

Die Botschaft auf dem Plakat ist einfach: "2,5 Millionen Barrel täglich mal 70 US-Dollar = 0. Sorry, Pythagoras, wir sind in Basra." Seit einer guten Woche gehen die Menschen im ölreichen und zugleich bitterarmen Südirak auf die Straße. Kein Wasser, kein Strom, keine Jobs, stattdessen Korruption und Missmanagement. Die Proteste haben sich von Basra auf die anderen Provinzen ausgedehnt, teilweise kommt es zu Angriffen auf öffentliche Gebäude und Anlagen – etwa den Flughafen von Najaf –, Parteibüros, Ölanlagen und Flughäfen sowie zu Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften. In ihrer Intensität sind diese Proteste beispiellos, sagt der Irak-Experte Harith Hasan von der Central European University in Budapest zum STANDARD.

Premier Haidar al-Abadi verspricht Investitionen und schnelle Abhilfe – und schickt Antiterroreinheiten vom Norden und Westen in den Süden, was dem noch immer aktiven "Islamischen Staat" (IS) zugutekommt. Das Internet, wo teilweise offenbar falsche Meldungen über zahlreiche Tote kursierten, wurde lahmgelegt.

Gründe gehen tiefer

Die Demonstranten fordern vor allem Verbesserungen ihrer Lebensumstände. Dennoch sollte man die Proteste nicht nur unter dem Aspekt der mangelnden öffentlichen Dienstleistungen und schlechten Infrastruktur betrachten. Die Unzufriedenheit hat breiter gefasste Gründe.

Offiziell hat der Irak etwa zehn Prozent Arbeitslose, eine Zahl, die ohnehin niemand glaubt, die aber im Süden und unter den Jugendlichen noch viel höher ist als anderswo. Das sind genau jene jungen Männer, die im Kampf gegen den IS in anderen Landesteilen in den vergangenen Jahren den Kopf hingehalten haben. Sie greifen nun auch die Zentralen der schiitischen Milizen an, die sie rekrutiert haben.

Keine Jobs in der Ölindustrie

Aus dem Südirak kommen 80 Prozent der irakischen Erdölexporte, die praktisch die einzigen Einkünfte des Irak generieren. Die Kosten des Wiederaufbaus nach dem Krieg gegen den IS sind mit 80 Milliarden US-Dollar beziffert. Jobs in der Erdölindustrie gibt es für lokale Kräfte nur wenige, aber das ist nicht die einzige Misere. Die anderen bisherigen Erwerbsmöglichkeiten schrumpfen.

Mitte Juni wurde wegen der großen Trockenheit wieder einmal der Anbau etlicher landwirtschaftlicher Produkte – darunter der berühmte Duftreis des Südirak – verboten. Arbeitslose Landarbeiter erhöhen den Druck in den Städten. Die Regierung in Bagdad hat sich nie um die Landwirtschaft im Süden gekümmert, stattdessen wird lieber importiert – etwa vom mächtigen Freund Iran.

Von Saddam Hussein bestraft

Unter Saddam Hussein (1979–2003) hatte die Vernachlässigung und Bestrafung des Südens System, etwa durch die Austrocknung des Marschgebiets im Süden. Die Schiiten im Süden standen unter Generalverdacht, mit der Islamischen Republik Iran zu sympathisieren. Dabei war der – von den USA ermutigte – Aufstand im Süden 1991, nach dem von Saddam verlorenen Kuwait-Krieg, anfangs keineswegs nur ein "schiitischer": Allerdings versuchten Iran-freundliche Gruppen rasch, ihn zu instrumentalisieren.

Zwar errichteten die USA, Großbritannien und Frankreich 1992 eine Flugverbotszone über dem Süden. Das war aber mehr als ein Jahr nach dem Ausbruch der Revolte. Das heißt, die Golfkriegsalliierten gaben Saddam ein ganzes Jahr Zeit, auch aus der Luft die Reste der Unruhen niederzuschlagen. Auch ihnen war die Kontrolle Saddams lieber als der iranische Einfluss. Der ganze Süden zahlte den Preis.

Ein besonders trockenes Jahr

Dieses Jahr leidet der Irak umso mehr unter Hitze und Trockenheit, weil heuer sowohl die Türkei als auch der Iran an den Oberläufen beziehungsweise Zubringern von Euphrat und Tigris weniger Wasser durchlassen. Teheran hat zudem die Stromexporte in den Irak gekürzt – wegen des Eigenbedarfs, aber wohl auch, weil die irakischen Schulden nicht bezahlt worden sind. Schnelle Lösungen gibt es nicht: Woher Abadi die 10.000 Jobs und die drei Milliarden Dollar an Investitionen nehmen will, die er versprochen hat, ist unbekannt.

Beobachter machen aber auch das politische Vakuum verantwortlich: Die Dawa-Partei, aus der Abadi, aber auch der frühere Premier Nuri al-Maliki stammen, will die Macht nicht abgeben. Auf der Seite der Wahlgewinner, der "Sairun" (Wir marschieren) von Muqtada al-Sadr, wächst die Frustration. Auffällig ist, dass Sadr-Büros bisher eher, wenn auch nicht komplett, verschont wurden: Manche meinen deshalb, dass er die Proteste anheizt. Der irakisch-kurdische Politologe Dlawer Ala'Aldeen (Middle East Research Institute, Erbil) meint aber zum STANDARD: "Keine einzelne Partei kontrolliert die Straße, die Sache kann außer Kontrolle geraten. Die Menge ist sehr gemischt, ohne klare Führung."

Wasser nur tröpfchenweise für den Minister

Das erinnert an das, was 2011 Arabischer Frühling genannt wurde. Folgende Szene in einem TV-Studio zeigt aber, dass der Irak ja doch etwas anders funktioniert als die nahöstlichen Autokratien: Der für Wassermanagement zuständige Minister Hassan al-Jannabi wird interviewt, der Journalist Ahmad Mulla Talal macht sich daran, ihm Trinkwasser in sein Glas zu schenken. Aber er gibt ihm nach und nach nur einige Tropfen: "Wasser ist knapp", sagt er dem Minister. Das sollte ein Journalist einmal in einem der Nachbarländer versuchen. (Gudrun Harrer, 17.7.2018)