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Seit der neuerlichen Vereidigung von Präsident Tayyip Erdoğan hat die Richterschaft im Land zu ihrem alten Schwung zurückgefunden.

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Can Dündar.

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Es war wieder eine aufregende Woche im türkischen Gerichtswesen. Seit der neuerlichen Vereidigung von Tayyip Erdoğan (64) zum Staatspräsidenten hat die Richterschaft im Land zu ihrem alten Schwung zurückgefunden. Gerichtsurteile über Journalisten und andere mutmaßliche Staatsverräter purzelten in rascher Folge. Wer ist im Häfen, wer ist draußen?

Die Woche begann mit einem überraschenden Freispruch für Erdem Gül, den Ankara-Bürochef der Tageszeitung "Cumhuriyet". Gül habe doch keine Staatsgeheimnisse veröffentlicht, als er im Juni 2015 über angebliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an syrische Rebellen berichtete, so entschied ein Istanbuler Gericht in einem Berufungsverfahren. Die Begründung: Das Staatsgeheimnis war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeplaudert. Can Dündar, der ehemalige, nun in Berlin lebende Chefredakteur von "Cumhuriyet", hatte im Mai 2015 über den Waffentransport geschrieben – auf der Titelseite der Zeitung und dokumentiert mit einem Video der türkischen Gendarmerie, die den Lastwagenkonvoi auf dem Weg zur syrischen Grenze aufgehalten und die Metallkisten mit Munition und Waffenteilen geöffnet hatte.

Dündar und Gül waren auf eine Klage von Erdoğan hin im Mai 2016 zu fünf Jahren und zehn Monaten beziehungsweise fünf Jahren Gefängnisstrafe verurteilt worden. Das oberste Berufungsgericht (Yargıtay) annullierte das Urteil später. Dündar sollte vielmehr zu einer noch schwereren Strafe von zehn bis 20 Jahren Haft verurteilt, Gül hingegen freigesprochen werden, so empfahl das Gericht. Eine Istanbuler Strafkammer folgte im Fall Gül tatsächlich der Aufforderung, der neue Prozess gegen Dündar läuft noch.

Auf Anklage und Gerichtsverfahren wartet hingegen noch der Philanthrop und Geschäftsmann Osman Kavala. Nach 260 Tagen in Untersuchungshaft gab es dafür am Dienstag ein erstes Foto eines abgemagerten Kavala mit Ehefrau Ayşe für die Weltöffentlichkeit.

Das Bild aus dem Gefängnis in Silivri mit dem Foto eines Palmenstrands im Hintergrund datiert bereits vom Monat Juni, als Ayşe Buğra Kavala während des Ramadan die Erlaubnis zum Besuch ihres Mannes erhielt. Kavala war im November 2017 als angeblicher Putschist verhaftet worden. Umsturz der Regierung und der verfassungsrechtlichen Ordnung lautet der Vorwurf. Der 61-Jährige ist unter anderem Mitbegründer des renommierten türkischen Verlags İletişim, Vorstandsmitglied des Istanbuler Thinktanks Tesev, beratendes Mitglied des Open Society Institute und Unterstützer von Bürgerrechtsorganisationen wie des Helsinki Citizens' Assembly.

Den dritten Verhandlungstag in ebenso vielen Monaten erlebte am Mittwoch hingegen der US-amerikanische Pastor Andrew Brunson in einem Gerichtssaal im Gefängnis von Aliağa in der Provinz İzmir. Brunson liegt allerdings deutlich vor Kavala, was seine Zeit in türkischer Untersuchungshaft anbelangt: Der heute 50-jährige Pastor war bereits im Oktober 2016 verhaftet worden. Kommt es einmal zu einem Urteil, könnte Brunson bis zu 35 Jahren Gefängnis ausfassen.

Geheime Zeugen, die von der Staatsanwaltschaft aufgeboten wurden, belasten den Pastor mit allerlei angeblichen Taten. Sie reichen von unerlaubter Missionierung und versuchter Gründung eines kurdischen Staats bis zur Verschwörung mit dem einstigen politischen Verbündeten Erdoğans, dem türkischen Prediger Fethullah Gülen. Brunson bleibt weiter in Untersuchungshaft, so entschied der Richter am Mittwoch. Nicht nur der anwesende Geschäftsträger der US-Botschaft in Ankara äußerte sich enttäuscht. Eine "totale Schande" für die Türkei, twitterte US-Präsident Donald Trump am Donnerstag. @RT_Erdogan solle etwas tun. Was genau, weiß der türkische Staatschef schon. Trump hat ihn wenigstens dreimal persönlich zur Freilassung von Brunson aufgefordert, zuletzt beim Nato-Gipfel in Brüssel in der Vorwoche.

Frocks International Trading Ltd., eine auf Malta registrierte, nur sechs Jahre im Wirtschaftsleben stehende Unternehmung, hat der türkischen Journalistin Pelin Ünker diese Woche auch wieder einen Gerichtstermin verschafft. Frocks war einmal vom Bruder des heutigen Finanzministers und Schwiegersohn Erdoğans, Serhat Albayrak, als Direktor geführt worden. Der verklagte Ünker wegen Verleumdung. Erdoğans Ministerschwiegersohn Berat Albayrak tat es ihm gleich, ebenso wie die auch in maltesischen Offshore-Geschäften zeitweise tätigen Söhne des letzten türkischen Regierungschefs und neuen Parlamentspräsidenten Binali Yıldırım. Die Investigativjournalistin Ünker hatte im November 2017 in der Zeitung "Cumhuriyet" über die Paradise Papers und die möglichen Fälle von Steuerhinterziehungen prominenter türkischer Geschäftsmänner aus Regierungskreisen berichtet.

Diese Woche war schließlich auch der Auftakt im Massenprozess gegen Mitarbeiter der politisch links stehenden Nachrichtenagentur ETHA (Etkin Haber Ajansı). Nach neun Monaten Erwägungen entließ die türkische Justiz die ETHA-Journalistin Havva Cuştan sowie vier weitere Kollegen aus der Untersuchungshaft. Acht weitere Angeklagte in dem Prozess, darunter die ETHA-Redakteurin İsminaz Temel und zwei Anwälte, blieben auf Anordnung des Richters in Haft.

Angeklagt wegen Unterstützung oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation sind insgesamt 23 Personen. Sie waren im Oktober 2017 bei einer Razzia festgenommen worden. Den fast zwei Jahre geltenden Ausnahmezustand hat Staatschef Erdoğan nun diese Woche auslaufen lassen. Dafür gelten nun zunächst für drei Jahre neue weitreichende Befugnisse unter anderem für Erdoğans Provinzgouverneure, um Demonstrationen zu verbieten und als verdächtig erklärte Personen festzusetzen. Das neue Sicherheitsregime nahm Erdoğans Mehrheit im Parlament am Freitag an. (Markus Bernath, 21.7.2018)