Ich möchte die Sommerpause für eine kleine Anekdote aus meinem Unterricht nützen. Am Ende des diesjährigen Sommersemesters habe ich mehrere Schülerinnen und Schüler der 5. Klasse Gymnasium beim Thema Trigonometrie, besser bekannt als Sinus-Cosinus-Tangens, unterstützt. Das Beispiel gab vor, dass ein Boden ein Gefälle von mehreren Prozent hätte und daher war auf eine gegebene Länge (in Meter) die Höhendifferenz auf der anderen Seite gefragt. Nichts aufregendes, schließlich lässt sich das Gefälle mittels Tangens in einen Neigungswinkel umrechnen und im letzten Schritt unter Verwendung des Sinus die Höhendifferenz (als Gegenkathete) berechnen. Das Ergebnis war übrigens 0,04 Meter. Bei allen Schülerinnen und Schülern war der Rechenweg korrekt und alle rundeten ihr Ergebnis auf dieselbe Dezimalzahl. Soweit so gut.
 
Jetzt kommt das aber: Das Ergebnis war in Zentimeter verlangt. Da alle Angaben in Meter gegeben waren, war es das Ergebnis ebenso. Also habe ich immer an dieser Stelle freundlich nachgefragt, wie viele Zentimeter das denn wären. Das, was sich mir dann bot, würden manche wohl als schockierend bezeichnen. Für mich war es hochinteressant und keineswegs irritierend. Meine Schülerinnen und Schüler wollten aus Sicherheit und vielleicht auch aus Verlegenheit kein schnelles Ergebnis verkünden und fingen an, sich gedanklich zum Beginn der Unterstufe zu begeben. Da war doch noch was ...  das mit dem Kommaverschieben ... bei Längenmaßen immer nur um eine Stelle ... aha ... ich probier mal ... von Meter auf Zentimeter ... Das Ergebnis war schließlich 0,0004 Zentimeter!

Längenmaße richtig umrechnen – eigentlich sollten wir das alle draufhaben.
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Für alle, die bereits früh(er) ausgestiegen sind: 4 Zentimeter ist die richtige Antwort. Natürlich ist 0,0004 Zentimeter ein absurd falsches Ergebnis, aber es kommt nicht von ungefähr und ich finde es interessant, den Gedankengang meiner Schülerinnen und Schüler nachzuvollziehen.

Kein Platz für Kreativität
 
Was ist eigentlich passiert? Es wurden mathematische Werkzeuge aus der ersten Klasse Unterstufe abgerufen und angewendet. Klarerweise falsch, aber das kommt nun mal davon, dass nur selten ein wirkliches Verständnis aufgebaut wurde beziehungsweise werden konnte, wie groß gegebene Maßeinheiten – egal ob Längen- , Flächen- oder Hohlmaße –tatsächlich sind. Dass in diesem Beispiel aus vier Hundertstel eines Meters plötzlich vier Zehntausendstel einer Zentimeters wurden, zeigt dies unverhohlen auf. Das einzige, das in den Hirnen erhalten bleibt, sind die jeweiligen Kommaverschiebe-Regeln. Tatsächlich beiseite geschoben wird leider allzu oft jeglicher Verstand. In dem Moment, wo dich als Schüler so eine vermeintlich einfache Frage ereilt, geraten die meisten ins Schwitzen: Es gibt keinen Platz für Kreativität und persönliche Bemühungen, es gibt nur richtig oder falsch. Die große Masse der Umrechnungsbeispiele – und seien sie noch so unsinnig wie das Umrechnen von Quadratmillimeter in Hektar – haben bei unseren Schülerinnen und Schülern mehr Ablehnung und Stress hinterlassen, als dass sie als wertvolle und eigentlich lebenspraktische Werkzeuge erkannt wurden.

Falls jemand glaubt, dass diese Anekdote mit der standardisierten Zentralmatura zu tun hat, der irrt. Beim Üben der "damaligen" Beispiele für die achte Klasse mit Rotationsvolumina, wurde meistens ein Achtelliter Sekt in einen Drehparaboloid geschüttet und danach gefragt, wie groß denn die Füllhöhe (in Zentimeter) sei. Die Integral-Rechnung (also der eigentliche Stoff) war selten das Problem. Das echte Drama spielte sich ab, als die zukünftigen Maturanten und Akademiker daran verzweifelten, 1/8 Liter als Hohlmaß in einen 1/8 Kubikdezimeter als Raummaß umzurechnen und am Ende die Zahl in Kubikzentimeter anzuschreiben, da das Sektglasbeispiel von Anfang an in Zentimeter angegeben war.

Die Krux mit der Pflicht

Die Quintessenz aus beiden Anekdoten ist, dass – oberstufliche Grundkompetenzen hin oder her – bis zum zwölften Schuljahr viel mathematisches "Zeugs" aufeinander gestapelt wird, ohne dafür Sorge zu tragen, dass (im wahrsten Sinne des Wortes) "grundlegende Kompetenzen" gefestigt werden und es auch bleiben. Gerade Maßeinheiten dienen hier als gutes Beispiel, da es ja "nur" Pflichtschulstoff ist.

Der Pflichtschulstoff im Fach Mathematik wird ja gerne als Mindestmaß an relevantem Wissen angesehen. Der Wortteil "Pflicht" deutet darauf hin, dass alle Schülerinnen und Schüler im Durchlaufen ihrer mindestens neunjährigen Schulzeit/Schulpflicht mit diesem Stoff in Berührung kommen. Das heißt aber nicht, dass dieser Stoff von allen richtig gelernt, verstanden und beherrscht wird. Der Mathe-Stoff zwischen der fünften und achten Schulstufe ist detailreicher und oft stressiger als die meisten sich noch erinnern können: Bruchgleichungen, Binome, Flächen- und Volumsberechnungen, Kreis und Kreisteile, Mischungs- und Bewegungsaufgaben, Anwendungen des pythagoräischen Lehrsatzes und vieles mehr. Wirklich relevant sind all diese mathematischen Zusammenhänge und Werkzeuge nur dann, wenn jemand eine weiterführende Ausbildung beziehungsweise Schulstufe verfolgt, die zumeist davon ausgeht, dass dies alles immer noch beherrscht wird. Es sei ja nur Pflichtschulstoff ...

Bildung ist das, was übrigbleibt, wenn das Gelernte vergessen wurde!

Wann haben Sie zuletzt die Mantelfläche eines Kegels ausgerechnet? Wann den Lehrsatz des Pythagoras angewendet? Oder gar Ihre Zinsen tagesgenau kalkuliert? Und falls Sie ein Schwimmbecken mittels Wasserleitungen mit verschiedenen Zuflussgeschwindigkeiten besitzen: Haben Sie die Dauer des Auffüllens im vorhinein jemals ausgerechnet? Es ist ein Unterschied, ob man weiß, dass man das ja alles einmal gelernt hat oder es tatsächlich auch abrufbar zur Hand beziehungsweise im Kopf hat.

Der österreichische Schüler (als terminus technicus) existiert in manchen Köpfen als Idealtypus, der den Lehrplan durchläuft und in seinem Rucksack stets alles für das nächste Schuljahr mitnimmt und abrufbereit dabei hat. In meiner Arbeit als Nachhilfepädagoge geht es immer wieder um das Nach- und Aufholen von Altlasten, wofür im normalen Unterrecht viel zu selten Zeit ist. Vor allem in den Ferienmonaten wird klar sichtbar, dass das Nachlernen von selber zu erfolgen hat. Und dafür ist die Schule nicht zuständig. Eigentlich ein unhaltbarer Zustand, dass nicht einmal in der letzten Ferienwoche ein Coaching angeboten wird!
 
Immer wieder denke ich mir, wie viel – für die Zukunft der meisten meiner Schülerinnen und Schüler unwichtiges – "Zeugs" in die Köpfe hineingetrichtert wird, wo gleichzeitig echte mathematische Grundlagen auf der Strecke bleiben. Übrig bleiben dann positive Matura- und Studienberechtigungszeugnisse und ernüchternde Aussagen, dass sie eigentlich nie verstanden hätten, was sie damals gemacht haben. Manche haben auch Angstträume, wo sie plötzlich zur mündlichen Prüfung an die Tafel geholt werden ... Ist das Sinn und Zweck von vielen Jahren Mathematikunterricht? (Rainer Saurugg, 30.7.2018)

P.S.: Noch eine letzte Anekdote. Als ich vor vielen Jahren als Trainer mit Jugendlichen in AMS-Kursen den Pflichtschulstoff auffrischen durfte, rechneten wir öfters Beispiele für Aufnahmetests für Lehrlinge. Dort gab es vernünftige und meiner Meinung nach lebenspraktische Beispiele: Bei einem rechteckigen Zimmer wurde Länge und Breite in Metern vermessen. Darauf wurden quadratische Bodenfliesen mit einer gegebenen Seitenlänge in Zentimeter verlegt. Schlussendlich musste die Anzahl der zu verlegenden Fliesen berechnet werden. Die meisten scheiterten spätestens bei den Maßeinheiten ...

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