Der ehemalige Raiffeisen-Generalanwalt Christian Konrad stellte vor einigen Tagen fest, dass die ÖVP unter Sebastian Kurz auf ein rechtes Gleis abgebogen sei. Sie sei deshalb keine christlich-soziale Partei mehr. Doch wer genau hinsieht, kann unschwer erkennen, dass Kurzens türkise ÖVP heute lediglich besonders ungeniert vorexerziert, was schon seit Jahrzehnten auf die schwarze ÖVP zutraf: Volkspartei und katholische Soziallehre sind durch einen Graben getrennt, einen ziemlich tiefen sogar. Neu ist nur, dass die ÖVP von ihrem selbstdarstellerischen Chef zu einem obrigkeitshörigen Sebastian-Kurz-Anbetungsverein umgemodelt wurde. Auch das ist nicht christlich-sozial.

Bereits 1971 stellte der Medienwissenschafter Peter Diem fest: "Das ideologische Dilemma, in das die VP geraten ist, besteht darin, dass sich die kirchliche Soziallehre in einem Maß dynamisiert hat, dass eine stark traditionsgebundene Schicht maßgeblicher ÖVP-Funktionäre die Wandlung schwer verkraften kann." Einige Jahre später diagnostizierte der Wiener Weihbischof Helmut Krätzl, dass das Verhältnis zwischen Kirche und ÖVP von einigen als "da und dort gestört" empfunden werde. Ursache dafür seien u. a. in der ÖVP agierende "katholische Akademiker, die seinerzeit ihre Theologie gut gelernt haben, aber später scheinbar keine Zeit mehr fanden, sich theologisch weiterzubilden." Dieser Weiterbildungsmangel zeige sich besonders im Hinblick auf die 1967 erschienene Sozialenzyklika "Populorum progressio" von Papst Paul VI., die Krätzl als "fortschrittlichste Äußerung der Kirche im Hinblick auf das Zusammenleben der Menschen" bezeichnete.

Im Mittelpunkt des päpstlichen Rundschreibens "Populorum progressio" steht die Bestimmung der Güter dieser Erde für alle Menschen und alle Nationen. "Das Privateigentum", verkündet Paul VI., "ist für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht. Niemand ist befugt, seinen Überfluss ausschließlich sich selbst vorzubehalten, wo anderen das Notwendigste fehlt." Das globale Gleichgewicht zwischen jenen Völkern, in denen unzählige Menschen an einem "jämmerlichen Mangel" an Nahrungsmitteln leiden, und jenen, in denen Nahrungsmittel im Überfluss erzeugt und konsumiert werden, sei in einem bedrohlichen Ausmaß gestört. Diese Diskrepanz verlange nach tiefgreifenden Reformen, die unverzüglich in Angriff genommen werden müssen. Paul VI. macht sich die entschiedene, rhetorisch brillante Privateigentumskritik des Kirchenvaters Ambrosius zu Eigen: "'Es ist nicht dein Gut', sagt Ambrosius, 'mit dem du dich gegen den Armen großzügig erweist. Du gibst ihm nur zurück, was ihm gehört. Denn du hast dir nur herausgenommen, was zu gemeinsamer Nutzung gegeben ist.'"

Relativierung des Privateigentums

Was bedeutet eine solche Aussage für die gegenwärtige Debatte über Menschen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt, Armut und Hunger? Ist es vorstellbar, dass ein schwarzer Politiker, eine türkise Politikerin diesen Satz gelesen und reflektiert hat? Oder ihn gar zustimmend zitieren würde? Ausgeschlossen.

Die Relativierung des Privateigentums geht in "Populorum Progressio" Hand in Hand mit einer harten Kritik an Kernsätzen des Kapitalismus. Ein ungehemmter Wirtschaftsliberalismus, "wonach der Profit der eigentliche Motor des wirtschaftlichen Fortschritts, der Wettbewerb das oberste Gesetz der Wirtschaft, das Eigentum an Produktionsmitteln ein absolutes Recht darstellt" ist nach Paul VI. wirtschaftsethisch abzulehnen.

Das "Wall Street Journal" diskreditierte die Enzyklika als "aufgewärmten Marxismus" und "Time" echauffierte sich darüber, dass Teile der Enzyklika den schrillen Tonfall einer marxistischen Polemik des frühen 20. Jahrhunderts hätten. Die ÖVP hatte bereits 1967 ihre liebe Not mit dieser katholischen Soziallehre.

Schön und gut, werden manche einwenden, aber was ist mit Papst Johannes Paul II., einem erklärten Gegner des Kommunismus und der Befreiungstheologien? Hat er nicht wesentlich kapitalismusfreundlicher geredet? Irrtum. Es gibt eine Fülle von Aussagen, die ihn als scharfen Kritiker des westlichen Kapitalismus und Konsumismus ausweisen. Eine muss hier genügen: "Der arme Süden wird den reichen Norden richten. Und die armen Menschen und armen Völker (...) werden jene richten, die ihnen diese Güter vorenthalten und auf Kosten anderer das imperialistische Monopol wirtschaftlicher und politischer Überlegenheit für sich selbst anhäufen." Eine solche Aussage wäre in einem ÖVP-Programm unvorstellbar, früher ebenso wie heute.

Es besteht kein Zweifel: Das Karussell der Politik würde sich links herum bewegen, wenn es sich nach der Melodie der katholischen Soziallehre oder gar des Evangeliums drehte. (Kurt Remele, 4.8.2018)