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Foto: AP/Ashwini Bhatia

"Vielleicht braucht es einen Sexvertrag?", schlägt Dzongsar Khyentse Rinpoche im Oktober 2017 auf Facebook vor. Der tibetische Lama in den roten Roben wird im Westen geschätzt für seine Provokationen, seinen modernen Zugang zum Buddhismus. Den fiktiven Vertrag liefert er gleich mit. Er wäre all jenen Gurus dienlich, die "alle Lebewesen retten wollen, aber trotzdem ein erfülltes Sexleben anstreben", postet er. Psychologen könnten auch prüfen, ob potenzielle Partner "Tendenzen hätten, Opfer zu spielen". Der Lama aus Tibet wollte einen Scherz machen.

Catherine Guye fand das nicht lustig. Sie hat im Februar Anzeige gegen einen Lama in der Schweiz erstattet. Seine buddhistische Organisation ist international tätig. Die Schweizerin wirft ihm Körperverletzung vor und: "sexuelle Handlungen an einer Person durchgeführt zu haben, die nicht fähig zu Urteil oder Widerstand war".

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Sakyong Mipham entschuldigte sich öffentlich dafür, mit seinen Schülerinnen Sex gehabt zu haben.
Foto: AP/ANDREW VAUGHAN

Sie ist nicht die einzige, die derartige Vorwürfe gegen buddhistische Lehrer im Westen erhebt. Anfang Juli trat etwa der Leiter einer der weltgrößten Buddhismus-Organisationen namens Shambhala, Sakyong Mipham, zurück. Er hatte sich zuvor öffentlich entschuldigt, mit Schülerinnen ein sexuelles Verhältnis gehabt zu haben. "Project Sunshine" hatte Berichte über Missbrauch bei Shambhala zusammengetragen.

Die Lausannerin Guye war 47, als sie begann, sich für Buddhismus zu interessieren, sagt sie dem STANDARD. Sie war frisch geschieden und fand einen Flyer des Schweizer Lamas, als 2005 der Friedensnobelpreisträger Dalai Lama in Zürich war – an ihm kann doch nichts falsch sein? Als ihr der Meister anbot, geheime tantrische Übungen zu machen, lehnte sie ab. Ihr war das nicht geheuer. Seine Belehrungen über das Ende des Leidens mochte sie aber, also blieb sie. Sie solle ihm ein Zimmer organisieren, seine Frau habe ihn rausgeschmissen, sagte ihr der Meister eines Nachts 2009 am Telefon. Überfordert mietete sie ein Zimmer in einer Jugendherberge. Der Lama bat sie, mit ihm dort zu essen. Danach begann er sie zu küssen und zog ihr den Rock hinunter. "Ich war wie erstarrt", erinnert sich Catherine an die Stunden danach. Damals sagte sie sich, dass sie dieser Zustand näher zur Erleuchtung bringen würde.

Auch Florine war seine Schülerin. Sie möchte nicht, dass ihr Name an die Öffentlichkeit kommt. Sie erzählt dem STANDARD, dass er auch sie sexuell nötigte. Die zwei Frauen wissen von weiteren Frauen, mit denen ihr Meister ein sexuelles Verhältnis innerhalb der schiefen Machtstrukturen hatte.

Seit dem offenen Brief an Superstar Sogyal kommen immer mehr Missbrauchsfälle ans Tageslicht.
Foto: AFP/JOEL ROBINE

Den Schleier des Schweigens lüften

Dass immer mehr buddhistische Adepten mit Missbrauchsvorwürfen an die Öffentlichkeit gehen, ist einem offenen Brief vom Sommer 2017 geschuldet: "Unser Wunsch ist es, den Schleier des Schweigens, der Irreführung und des Betrugs zu lüften, schrieben damals acht langjährige Schüler des tibetischen Superstars Sogyal Lakar: "Du benutzt deine Rolle als Lehrer, um Zugang zu jungen Frauen zu bekommen und sie zu sexuellen Gefälligkeiten zu nötigen." Der Brief gegen den Leiter der millionenschweren Organisation Rigpa löste Schockwellen in der bisher so heilen buddhistischen Welt aus. Viele Buddhisten im Westen sind verunsichert. Missbrauch. Wie passt das zum Bild des Gurus, der unendliches Mitgefühl und Wissen besitzt?

Ob Sogyal in seiner Allwissenheit den Skandal geplant hätte? Ob er beabsichtigte, dass diese Menschen sich verletzt fühlen, um sie zur Erleuchtung zu bringen?, fragte ein Schüler, der sich Bernie nennt, den Lama mit dem Sexvertrag, Dzongsar Khyentse. Dzongsars öffentliche Antwort: "Das ist fantastisch!" Und: Mit so einer Einstellung sei Bernie ein wahrer "Wächter des Vajrayana".

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Opfergaben, Anbetung und Niederwerfungen gehören zu den täglichen Ritualen im tibetischen Buddhismus.
Foto: Reuters/EDGARD GARRIDO

Vajrayana. Auch bekannt als Tantrismus ist das jene Form des Buddhismus, in der Praktizierenden die Möglichkeit der Erleuchtung in nur einem Leben versprochen wird. Schlüssel dafür ist die Hingabe an einem Guru, einen Lama. Alles, was der Lama tut, ist "pur" – das ist die Übung. Dass Schüler dabei Gefahr laufen, missbraucht zu werden, merken viele zu spät. Und das macht schließlich auch juristisch Probleme: Die Betroffenen haben ja "eingewilligt". Der Guru ist kein Therapeut, vor dem das Gesetz in manchen Ländern schützen würde. Eindeutige juristische Verbote gibt es, wenn es um sexuelle Handlungen mit Minderjährigen geht.

Deswegen steht in Brüssel ein belgischer Lama vor Gericht. Der Belgier hat sich in den 70er-Jahren nach einer Indien-Reise tibetische Roben übergezogen und eine buddhistische Organisation gegründet. Heute wird ihm vorgeworfen, etliche minderjährige Mädchen missbraucht zu haben – unter dem Namen eines buddhistischen Rituals. Ein Urteil in dem Fall wird für September erwartet.

Der Belgier hat weiter viele Anhänger, so auch Sogyal, Sakyong Mipham oder der Lama in der Schweiz. Die Unfehlbarkeit des erleuchteten Lehrers bringt viele Buddhisten in ein Dilemma: Sie diskutieren über absolute Weisheit und Mitgefühl – mit den Traumata der Betroffenen hat das wenig zu tun. Betroffene wünschen sich ein Machtwort von spirituellen Schwergewichten.

Meditieren mit den Betroffenen

Bereits 2006 ging im Büro des Dalai Lama ein Brief ein, der die Vorkommnisse um den Schweizer Lama schilderte. "Wenn wir uns nicht wohl bei einem Lehrer fühlen", so die Antwort, "dann ist es das Beste, wenn wir uns entfernen." Es sei auch gut, nicht harsch und spalterisch mit den anderen Schülern zu sprechen, sondern "schweigend wegzugehen". Man habe beim Lama in der Schweiz gefragt, und der habe gemeint, er hätte keine sexuellen Beziehungen mit seinen Schülerinnen. Nur wenn es "handfeste Beweise" gäbe, solle man es den geeigneten Personen mitteilen.

Seit den Medienberichten hat der Dalai Lama doch Stellung zu Sogyal bezogen, nannte ihn etwa in Ungnade gefallen ("disgraced"). Der ehemalige Shambhala-Leiter betonte in seiner Entschuldigung, dass er doch mit den Betroffenen meditiert und Heilpraktiken durchgeführt hätte. Der Schweizer Lama hat Anfragen nicht beantwortet.

Meditation mit dem Täter? Witze über Sexverträge? Die wenigen Reaktionen lassen die Betroffenen frustriert zurück. Dzongsar war der einzige Guru, der dazu öffentlichkeitswirksam in Europa Vorträge hielt. Titel: "Vajrayana-Buddhismus in der modernen Welt: Die Herausforderungen und Missverständnisse in der heutigen Zeit". Der Sexvertrag hat aber auch seine Anhänger überfordert. Nach heftiger Kritik löschte er das Posting nach wenigen Stunden. (Anna Sawerthal, 11.8.2018)