Mehr als hundert Jahre nach den bahnbrechenden Arbeiten von Sigmund Freud (im Bild sein Arbeitszimmer im Freud Museum in London) ist die Psychotherapie in Österreich noch immer nicht ganz angekommen.

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Wien – Sie zählen zu den großen Krankheitsbildern, aber viel zu selten wird ein Blick darauf geworfen: psychische Erkrankungen. Zum Teil sind sie nach wie vor von einem Tabu belegt.

Europaweit erleben nach Erhebungen der WHO 25 Prozent der Bevölkerung einmal im Jahr Depressions- oder Angstzustände. Allein in Österreich ist jeder zweite Mensch irgendwann in seinem Leben zumindest einmal mit einer psychischen Störung konfrontiert.

Etwa 250.000 Menschen benötigen hierzulande pro Jahr eine entsprechende Behandlung. Die durch Stimmungsstörungen und Angstzustände verursachten Kosten – zum Beispiel durch Arbeitsentfall – werden EU-weit auf 170 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.

Hohe Suizidrate

Etwa 1.300 Menschen begehen in Österreich pro Jahr Suizid. Zum Vergleich: 2017 wies die Statistik 413 Verkehrstote aus. Aber es sind natürlich nicht nur Depressionen und Angstzustände. Das Diagnosespektrum reicht von Persönlichkeitsstörungen (Borderline) über Panikattacken, Burnout und Phobien bis zu Zwangsstörungen. Hinzu kommt das weite Feld der neuropsychologischen und -psychiatrischen Störungen (Demenz und Alzheimer).

Psychologen und Psychotherapeuten schlagen jedenfalls schon seit Jahren Alarm, dass zehntausende Menschen in Österreich psychotherapeutische Hilfe bräuchten, diese aber nicht bekämen oder eine solche zu teuer sei. Die Kassen beteiligen sich nur teilweise an den Kosten.

Psychopharmaka

90 Prozent jener Patienten, die wegen psychischer Probleme in ärztlicher Betreuung sind, werden mit Psychopharmaka behandelt. Nur wenig mehr als sieben Prozent haben derzeit therapeutische Unterstützung. Und hier übernehmen wiederum die Krankenkassen nur ungefähr die Hälfte der Behandlungen. Das soll sich jetzt zumindest verbessern.

Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger (HVB) will das Angebot für Psychotherapie auf Krankenschein bis Ende 2019 ausweiten. Allerdings: Die Regierung könnte da noch einen Strich durch die Rechnung machen, zumal einer Ausweitung der psychotherapeutischen Leistungen die von der VP-FP-Koalition beschlossene "Ausgabenbremse" für die Sozialversicherung entgegensteht. HVB-Chef Alexander Biach bleibt dennoch "relativ optimistisch".

Wobei: Es ist ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein oder "ein erster" Schritt, wie es der Präsident des Österreichischen Bundesverbandes für Psychotherapie, Peter Stippl, formuliert. Denn vom eigentlichen Ziel des Verbandes – einer Gleichstellung von physischen und psychischen Erkrankungen im Sozialversicherungssystem – sei man nach wie vor weit entfernt.

Frühpensionierungen

Aktuell geht es jetzt um eine Erhöhung des Zuschusses zu einer Psychotherapie von 21 auf 28 Euro pro Therapieeinheit. Die erste Erhöhung seit 27 Jahren, sagte Stippl am Dienstag. Die Therapiehonorare bewegen sich laut Stippl derzeit zwischen 60 und 130 Euro pro Sitzung. In Summe dreht sich das Ganze um einen Finanzaufwand der Kassen im Ausmaß von 70 Millionen Euro.

Schwer nachvollziehbar sei nach wie vor, warum psychotherapeutische Behandlungen nicht besser finanziert würden, denn es sei statistisch belegt, dass psychische Erkrankungen als Hauptgrund etwa für Frühpensionierungen gelten. Mit enormen Folgekosten. Dass es überaus sinnvoll sei, hier präventiv einzugreifen, zeige die Salzburger Gebietskrankenkasse vor, sagt Stippl. Hier werde österreichweit am meisten in die Psychotherapie investiert, mit dem Effekt, dass die Zahl der durch psychische Erkrankungen notwendigen Frühpensionierungen gesunken sei. (Walter Müller, 7.8.2018)