Wenn der Blick auf Produktion und Verbrauch ausgerichtet bleibt, fahren wir über kurz oder lang an die Wand. Neue Formen des Wirtschaftens sind gefragt.

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Wir leben, als ob es kein Morgen gäbe, sind Getriebene eines Wirtschaftssystems, das keine Rücksicht auf die begrenzten Ressourcen der Erde nimmt und zudem immer mehr Menschen krank macht. Walter Stahel sagt, dass es auch anders gehe. Der gebürtige Schweizer war Berater mehrerer Arbeitsgruppen der EU-Kommission und gilt als der Experte in Sachen Kreislaufwirtschaft in Europa.

STANDARD: Weltweit verbrauchen wir jetzt schon mehr Ressourcen, als die Natur zur Verfügung stellen kann, ohne Schaden zu nehmen.

Stahel: Sie meinen den Welterschöpfungstag, der auf den 1. August fiel und so früh war wie noch nie. Die Berechnungen beziehen sich im Wesentlichen auf nachwachsende Rohstoffe. Dabei wird die größte nachwachsende Ressource, die tierische und menschliche, meist ausgeklammert. Die wächst weiter, nur nutzen wir sie schlecht. Ähnliches gilt für Sonnenenergie und Erdwärme.

STANDARD: Wieso das?

Stahel: Weil wir auf die Produktion und den Konsum fixiert sind und nicht auf uns selbst als Teil der Natur schauen. Das führt in die Sackgasse.

STANDARD: Das hängt wohl mit dem Wirtschaftssystem zusammen?

Stahel: Würden wir das Wachstum qualitativ an den Beständen messen und nicht rein den Verbrauch, würden wir feststellen, dass wir reicher sind. Wälder, Human- und Kulturkapital wachsen.

STANDARD: Bestandsmehrung ist für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) irrelevant. Nur der Verbrauch zählt.

Stahel: Für das BIP sind möglichst viele Verkehrsunfälle gut. Bei einer Grippewelle wäre es gut, wenn alle Betroffenen ins Spital gingen, statt zwei Wochen zu Hause Tee zu trinken und Medikamente zu nehmen. Dann würde das BIP-Wachstum wohl um mehrere Prozentpunkte steigen. Dass das Unsinn ist, erklärt sich von selbst.

STANDARD: Wie kommt man da weg?

Stahel: Vor 2000 Jahren hatte jedes chinesische Dorf einen Arzt. Einwohner, die bei guter Gesundheit waren, kamen für den Lebensunterhalt des Arztes auf. Kranke hingegen wurden kostenlos behandelt. Der Arzt hatte folglich Interesse, dass möglichst wenige Menschen krank wurden. Das Gesundheitssystem, wie wir es heute kennen, würde kollabieren.

Glaubt, dass der Blitz der Erleuchtung die Menschen noch rechtzeitig trifft: Walter Stahel, Experte für Kreislaufwirtschaft und Gründer eines einschlägigen Instituts in Genf.
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STANDARD: Die BIP-Fixiertheit verhindert eine Wende zum Besseren?

Stahel: Wenn die Menschen genügsamer leben würden, hätte das sofort negative Auswirkungen auf die Produktionswirtschaft. Im Grunde ist es ja schon wirtschaftliche Sabotage, wenn jemand sein Gemüse selbst anpflanzt. Das findet nicht Eingang in das BIP. Politiker haben deshalb kein Interesse, einen nachhaltigen Nichtverbrauch zu fördern.

STANDARD: Sie gelten als Vordenker der Kreislaufwirtschaft. Wie zufrieden sind Sie mit der Umsetzung?

Stahel: Es hat sich einiges getan. Das Problem mit wirtschaftlichen Kreisläufen ist, dass sie unsichtbar, leise und regional verortet sind. Von einem lokalen Schuhmacher werden Sie nie einen Lkw auf der Autobahn sehen, von großen Herstellern hingegen laufend.

STANDARD: Mehr Druck von unten?

Stahel: Etablierte Unternehmen sind an Änderungen nicht interessiert, sie würden verlieren. Außer sie beginnen, ihre Güter zu vermieten, statt zu verkaufen. Dann wäre es sehr wohl in ihrem Interesse, dass Güter langlebig, möglichst wenig reparaturanfällig und einfach reparierbar sind. Alle Prinzipien eines wirtschaftlichen Kreislaufs werden von den Herstellern in dem Moment internalisiert, in dem sie selbst von der längeren Nutzungsdauer etwas haben.

STANDARD: Und die Sharing Economy?

Stahel: Auch damit tun sich Probleme auf. Sharing geht zusammen mit Caring – Sorge tragen. Wenn jemand ein Auto besitzt, kümmert er sich in der Regel darum. Wenn Autos oder anderes geteilt werden, besteht die Gefahr, dass nicht sorgsam damit umgegangen wird. Das hat etwa dazu geführt, dass in Paris Autolib, ein Carsharing-Unternehmen, das sich auf kleine Elektrofahrzeuge spezialisiert hat, bankrottzugehen droht. Die Autos sind so schmutzig und optisch in schlechtem Zustand, dass immer weniger Leute damit fahren wollen.

STANDARD: Teilen statt besitzen wäre aber im Prinzip das Richtige?

Stahel: Sicher, weil Mietobjekte intensiver genutzt werden. Die geteilte Nutzung ist nichts Neues, denken Sie an Taxis, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr, Hotelzimmer, Konzertsäle. Vandalismus ist bei diesen Nutzungsformen lange bekannt. Es gibt Maßnahmen, wie man das in Grenzen halten kann, zum Beispiel durch Videoüberwachung. Das führt aber zum nächsten Problem.

STANDARD: Und zwar?

Stahel: Auch geteilte Nutzungssysteme wollen "effizient" sein, das heißt Leute durch Roboter oder Maschinen ersetzen. Die sind effizienter, streiken nicht, nehmen keinen Urlaub. Dabei wird vergessen, dass Personal in Zügen durch Präsenz Sicherheit schafft. Jetzt ersetzen wir Personal durch Kameras. Überwacht müssen auch diese werden. Statt 20 Personen, die in den Zügen kontrollieren, gibt es eine Person, die vor 20 Bildschirmen sitzt. Auf den ersten Blick sieht es aus, als ob sich Geld sparen ließe. Was nie in Betracht gezogen wird, sind die Unterhalts- und Instandhaltungskosten. Es fehlt der gesamtheitliche Blick.

STANDARD: Die EU-Kommission hat im Frühjahr ein Kreislaufwirtschaftspaket auf den Weg gebracht. Was halten Sie davon?

Stahel: Das ist eigentlich eine Neuauflage der Abfallrichtlinie aus dem Jahr 2008. Schon damals wurde der Abfallvermeidung Priorität eingeräumt. Am besten erreicht man das durch Wiederverwendung und Lebensdauerverlängerung von Gütern. Bis sich das aber in einem nationalen Gesetz wiederfindet, dauert es. Am besten wäre es, wenn es gelänge, den Menschen Lust auf Nachhaltigkeit zu vermitteln. Nur – wieso sollen Leute darauf Lust bekommen, solange sie Lust auf Konsum haben?

STANDARD: Was könnte die Motivation sein, Gebrauchtes in den Wirtschaftskreislauf zurückzubringen?

Stahel: Abfall hat meist keinen positiven Wert und keinen haftenden Eigentümer. Die Politik könnte das lösen, indem sie den Gütern einen Wert beimisst – wie das Pfand bei Flaschen. Produzenten könnten haftbar gemacht werden, wenn Abfälle unkontrolliert irgendwo landen. Das hätte mehrere Vorteile.

STANDARD: Und zwar?

Stahel: Die Haftungen müssten in den Jahresberichten angeführt werden. Aktionäre hassen unklare Haftungskosten. Würde der Gesetzgeber Erzeuger für das haftbar machen, was mit den Produkten geschieht, würde das schnell dazu führen, dass sich die Hersteller dagegen schützen. Am besten geht das, indem sie Güter vermieten statt verkaufen. Wenn die Hersteller das Eigentum zurückbehalten, behalten sie die Kontrolle über die Güter. Dadurch können sie die Haftung einschränken.

STANDARD: Sind Sie optimistisch oder pessimistisch, dass uns doch noch in absehbarer Zeit der Blitz der Erleuchtung trifft?

Stahel: Optimistisch. Wenn es eng wird, schaffen wir selbst Unwahrscheinliches. Das sieht man in Ländern mit hoher Bevölkerungsdichte wie beispielsweise Singapur. Für viele Europäer ist der Stadtstaat zwar keine Demokratie. Wer dort mit Drogen erwischt wird, dem droht die Todesstrafe, wer einen Kaugummi oder Zigarettenstummel wegwirft, muss sich auf eine drakonische Geldstrafe einstellen. Das entspricht nicht unserem Freiheitsgefühl. Vielleicht sollten wir das Ganze überdenken. Meine Freiheit ist nur meine Freiheit, wenn sie nicht die Freiheit anderer beschneidet. Darüber müsste ein öffentlicher Diskurs stattfinden. (Günther Strobl, 13.8.2018)