Der Sommer 2018 ist im Südirak von einer anhaltenden Protestwelle geprägt. Im Süden werden die Einkünfte des Landes generiert, die Bevölkerung hat nichts davon.

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Der Irak, auf der Liste der Länder mit bewiesenen Ölreserven auf Platz fünf, produziert mittlerweile seit Jahrzehnten Fluchtwellen. Dem Ressourcenreichtum stehen bittere Armut und menschliches Leid gegenüber. 2014 lag die Armutsschwelle laut Weltbank bei 22,5 Prozent, im Süden bei 30 Prozent, und der Wert hat sich seitdem verschlechtert. 2016 waren 2,1 Prozent der Bevölkerung von Hunger bedroht.

Seit fast vierzig Jahren folgen Kriege aufeinander: begonnen mit dem achtjährigen Irak-Iran-Krieg 1980 bis 1988, in dem Saddam Hussein seine genozidartige Gewalt auch gegen eigene Bevölkerungsteile richtete. Danach kamen der Golfkrieg nach der irakischen Kuwait-Invasion 1991 und die Niederschlagung der Aufstände im Norden und Süden, der Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten 2003, der Bürgerkrieg ab 2006, der Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS) ab 2014.

Nicht nur vor kriegerischen Auseinandersetzungen flohen hunderttausende Menschen, auch vor der politischen Repression, den verheerenden internationalen Wirtschaftssanktionen in den 1990ern, die den irakischen Mittelstand auslöschten, und vor dem konfessionellen Druck nach Saddams Sturz 2003.

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Das ist 15 Jahre her, und wie zerbrechlich die irakische Demokratie ist, zeigen die Parlamentswahlen vom 12. Mai. Einmal mehr hat der Urnengang nicht die Legitimität des neuen Systems gestärkt. Im Gegenteil, durch die Wahlbetrugsvorwürfe und das lange politische Vakuum – noch immer sind die Endergebnisse nicht bestätigt – droht eine weitere Radikalisierung jener Teile der Gesellschaft, die sich ohnehin schon ausgeschlossen fühlen.

Demonstrationen sind nichts Ungewöhnliches, aber die aktuellen Proteste im Süden, besonders in Basra, haben eine neue Qualität. Verschiedentlich wird der Verdacht geäußert, dass die Bewegung des Wahlsiegers, des schiitischen Mullahs Muktada al-Sadr, Unruhe schürt, um der Notwendigkeit eines Politikwechsels Nachdruck zu verleihen.

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Macht er Druck mit Protesten auf der Straße? Der schiitische Führer Muktada al-Sadr.
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Sadr, der zu diesem Zweck mit den Kommunisten eine Allianz einging, hat sich zum Anwalt der Armen, der "verlorenen Generationen", gemacht – und eines seiner Mittel ist seit jeher die Mobilisierung der Straße. Das ist nicht schwierig: Beträgt die Jugendarbeitslosigkeit im Durchschnitt 15 Prozent, so liegt sie im Süden bei dreißig. Die südliche Erdölindustrie generiert kaum Jobs für die lokale Bevölkerung, andere Sektoren, wie etwa die Landwirtschaft, wurden systematisch vernachlässigt. Dazu kommt die wachsende Trockenheit des Südens durch den Klimawandel.

Noch höher ist die Arbeitslosigkeit allerdings in den bis zum Vorjahr vom IS beherrschten Gebieten mit ihren weitreichenden Zerstörungen. Noch hat der systematische Wiederaufbau, von dem man sich Arbeitschancen erhoffen könnte, kaum begonnen. Die durch die Ungleichheit der Situation in den verschiedenen Landesteilen erzeugte Bevölkerungsmobilität bringt Herausforderungen dort, wo es etwas besser geht.

Problem Demografie

Eines der Probleme ist das Bevölkerungswachstum, schreibt der Irak-Experte Harith Hasan (Central European University, Budapest) in einem Bericht für den Atlantic Council: Die Wachstumsrate liegt mit einer Fruchtbarkeitsrate von 4,27 bei 2,75 Prozent, trotz der Verluste durch Krieg, Flucht und Wirtschaftsemigration. Das heißt, bei 37 Millionen Irakern und Irakerinnen heute kann man von 53 Millionen im Jahr 2030 ausgehen.

Es ist schwierig, die Fraktionierung der irakischen Gesellschaft und ihre wirtschaftlichen Folgen darzustellen, denn die Konstellationen sind überall anders. Dabei geht es nicht nur um Bevölkerungsteile, die durch die Verwerfungen der letzten Jahre unter Druck kamen, etwa Christen und – noch viel stärker – andere religiöse Minderheiten durch die islamische Radikalisierung. Auch innerhalb von Konfessionen und Ethnien gibt es teils scharfe Konkurrenz und Verdrängung.

Ganz allgemein kann man sagen, dass alle, die nicht Teil einer lokal dominanten Gruppe sind oder sich gar dagegen auflehnen, ein schweres Leben haben. Wenn man zu den "Falschen" gehört, hilft oft nur das Weggehen. Viele Geflüchteten erzählen solche Geschichten, sie sind glaubhaft. Diese lokale Hegemonie ausübenden Gruppen – etwa Parteien, viele davon mit den entsprechenden Milizen – sind aber auch auf nationaler Ebene institutionell verwoben. Sie sorgen natürlich ebenso dafür, dass ihre Klientel von ihnen profitiert, sonst könnten sie sich nicht halten.

Pfründe zur Schaffung von Reichtum

Ministerien etwa werden oft wie Pfründe verwaltet: Sie dienen zur Schaffung von Reichtum der Klienten jener Partei, die das Ministerium innehat. Wer zum Beispiel als Unternehmer nicht dazugehört, hat Pech gehabt. Für einen Regierungschef sind diese informellen Netzwerke innerhalb der staatlichen Bürokratie schwer zu sprengen: Er ist ja gleichzeitig auf deren Kooperation angewiesen.

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Sadr hat bereits 2016 von Premier – derzeit nur Übergangspremier – Haidar al-Abadi die Bildung einer Expertenregierung verlangt und dafür, wie es seine Art ist, Sit-ins und Demonstrationen organisiert. Seine Anhänger stürmten sogar die ehemals internationale Zone in Bagdad. Abadi, der der Idee nicht abgeneigt schien, war viel zu schwach, eine entsprechende Regierungsumbildung durchzusetzen. Seinem Nachfolger wird es wohl nicht anders ergehen.

Patronagesystem

Wer sich jedoch sein Plätzchen innerhalb dieses Patronagesystems gefunden hat, der kann ganz gut leben. Dazu gehören auch Jobs beim Staat. Etwas überspitzt kann man sagen, dass es zwei Klassen von Irakern gibt: Staatsangestellte und andere. Da geht es nicht nur um Arbeitsverhältnisse, sondern auch um zu erwartende Pensionen, mögen sie noch so klein sein. 40 Prozent der Erwerbstätigen sind im öffentlichen Sektor beschäftigt. Auch das Universitätssystem ist darauf getrimmt, Studienabgänger darauf vorzubereiten, so Harith Hasan in seinem Bericht weiter.

Bis 2013 schien der Irak nach einigen ruhigeren Jahren, die auf den Bürgerkrieg folgten, auf einem Stabilisierungskurs. 2013 passierte zweierlei: Einerseits schwappte der IS – der ja im Irak entstanden war, ab 2011 jedoch im syrischen Krieg seinen großen Aufschwung erfuhr – zurück in den Irak. Das bedeutete nicht nur Gewalt und Leid für die Bevölkerung, sondern durch die wachsenden Militärausgaben eine große Belastung für die Wirtschaft. Gleichzeitig sank jedoch der Ölpreis. Aus dem Erdöl bezieht der Irak 90 Prozent seiner Einkünfte.

2016 sprang der Internationale Währungsfonds mit einem Kreditrahmen von 5,23 Milliarden US-Dollar ein. Die Bedingungen und Belehrungen, die von den internationalen Finanzinstitutionen kommen, stehen aber im Widerspruch zu dem, was die Bevölkerung fordert. Die Regierung verpflichtet sich zu Reformen, schreckt aber vor der Umsetzung zurück, weil sie sich vor den informellen Netzwerken – und von noch mehr Unruhe – fürchtet.

Unruhe bringt Repression und Militarisierung: Das bedeutet paradoxerweise in einem ersten Moment Jobs für junge Männer. In einem zweiten jedoch Destabilisierung – und neue Fluchtgründe. (Gudrun Harrer, 15.8.2018)