Meine Geschichte beginnt auf dem Dachboden meiner Großmutter, wo mein Onkel einige Fossilien aufbewahrte, die mich als Kind magisch anzogen. Die Tatsache, dass ich hier die versteinerten Formen von Lebewesen in Händen hielt, die Jahrmillionen vor den Menschen auf Erden gelebt hatten, schlug mich in ihren Bann. Diese Erfahrung, im Hier und Jetzt des großmütterlichen Sommerhauses etwas zu berühren, das aus einer unvorstellbar fernen Vergangenheit stammte, beschäftigt mich bis heute, wenn auch nicht als Paläontologin.

Jahrzehnte nach dem Kindheitserlebnis auf dem Dachboden versuche ich zu begreifen, wie wir Vergangenheit denken, welche Vorstellungen wir uns davon machen und welche Rolle dabei Gegenstände und Bilder spielen. "Begreifen" ist hier durchaus im doppelten Wortsinn zu verstehen. Als Vertreterin der künstlerischen Forschung ist die Produktion von Artefakten, beziehungsweise das Wissen und die Erfahrung die dafür notwendig sind, ein wichtiger Teil meiner Herangehensweise an ein Thema.

Was sind dialektische Bilder?

Mein aktuelles Forschungsprojekt widmet sich der Geschichtsphilosophie des Philosophen Walter Benjamin (1892–1940), die er unter anderem im "Passagen-Werk" darlegt – seiner Fragment gebliebenen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Zentraler Begriff seiner Philosophie der Geschichte ist das "dialektische Bild". Was ist ein dialektisches Bild? Benjamin definiert es als dasjenige "worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt". So rätselhaft diese Definition auf den ersten Blick scheint, bringt sie doch auf den Punkt, was uns an Fossilien fasziniert, nämlich die unmittelbare Gegenwärtigkeit von etwas Vergangenem – etwa den vor 66 Millionen (!) Jahren ausgestorbenen Ammoniten, von denen einer den Weg ins Haus meiner Großmutter fand.

Benjamins Denken von Geschichte kreist also um das dialektische Bild, das er mit dem "historischen Gegenstand" identifiziert. Ohne näher auf die Fragen einzugehen, die Benjamins Begriffe aufwerfen, können wir festhalten, dass es für ihn Aufgabe der Geschichtsschreibung ist, dialektische Bilder zu "konstruieren". Diese Formulierung rückt den Historiker in die Nähe des Künstlers: ein Bild zu komponieren ist etwas, das spontan eher mit dem Künstler assoziiert wird als mit dem Historiker. Hier kommen wir zurück zur künstlerischen Forschung und der Frage, ob es möglich ist, mit den Mitteln der Kunst dialektische Bilder zu erzeugen?

Das Gewesene im Jetzt

Natürlich sind Benjamins dialektische Bilder nicht von der Art, wie wir sie beispielsweise im Museum betrachten. Das dialektische Bild ist dynamisch, eine "von Spannungen gesättigte Konstellation", die "aufblitzt" und damit eher an eine Vision oder geistige Bilder erinnert, wie sie in Träumen vorkommen. Es gibt jedoch einen konkreten Ansatzpunkt, den der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman mit seiner Ausstellung zum Abdruck in der Kunstgeschichte geliefert hat, die 1997 im Pariser Centre Pompidou gezeigt wurde. Im Buch zur Ausstellung – das auf Deutsch unter dem Titel "Ähnlichkeit und Berührung" erschienen ist – bringt Didi-Huberman das dialektische Bild in Beziehung zum Abdruck.

Tatsächlich passt Benjamins Definition als "Konstellation des Gewesenen mit dem Jetzt" nicht nur auf Fossilien, sondern auch auf den flüchtigen Fußabdruck im Sand: dieser zeigt ebenso die Berührung mit dem Fuß an, wie die Abwesenheit dieser Berührung und bildet so eine Konstellation des Gewesenen – der vergangene Moment der Berührung, die den Abdruck hinterlassen hat – mit der Gegenwart in der der Abdruck sichtbar wird, wenn der Fuß nicht mehr da ist. Zwischen den versteinerten Abdrücken aus der Urzeit und den vergänglichen, die wir am Strand hinterlassen, liegt ein breites Spektrum unterschiedlichster, sowohl dauerhafter als auch vergänglicher Formen und Techniken des Abdrucks. Insbesondere die Kunstgeschichte kennt eine Vielzahl an Verfahren um Abdrücke oder Abgüsse herzustellen. Beispiele sind die Frottage, das Fotogramm oder der Naturselbstdruck, auf den ich noch zu sprechen komme.

Negative Abdrücke

Tatsächlich hat die Kunstgeschichte von Anfang an mit Abdrücken zu tun. So finden sich in der jungsteinzeitlichen Höhlenmalerei aller Kontinente häufig negative Handabdrücke. Hier ist die Handfläche nicht direkt abgedrückt, sondern die Farbpigmente sind dort ausgespart, wo die Hand den Fels berührt hat, sodass diese als Negativ sichtbar wird. Bei näherer Betrachtung erweist sich schon diese einfache Geste als erstaunlich komplex, weil die Hand im negativen Abdruck gleich auf doppelte Weise zugleich da und nicht da ist. Auch hier haben wir es jedoch mit der Abwesenheit einer Berührung zu tun. Wenn wir uns vorstellen, unsere Hand auf einen der Abdrücke zu legen, die unsere Vorfahren vor Jahrtausenden hinterlassen haben, so ist es, als könnten wir diese Vergangenheit berühren. Insofern verweist der Abdruck nicht nur auf die Abwesenheit einer Berührung, sondern ermöglicht auch so etwas wie eine Berührung dieser Abwesenheit. Dieser Gedanke drückt etwas von dem Faszinosum aus, das die Begegnung mit Fossilien schon als Kind für mich hatte und beflügelt mein Vorhaben, Dinge zu schaffen, die ähnlich den prähistorischen Handabdrücken etwas von dem erahnen lassen, was Benjamin mit seinem Begriff des dialektischen Bilds zu fassen versucht. Didi-Huberman spricht in diesem Zusammenhang von einer "Komplexität der Zeit", die der Künstler begründet, der sich eines Abdruckverfahrens bedient.

Negative Handabdrücke in Borneo, Indonesien, circa 10.000 Jahre alt.
Foto: WikiCommons/Luc-Henri Fage, CC-0

Rekonstruktion des Vergangenen

Eine Werkserie die diesen Anspruch einlösen will ist "The Pencil of Nature". Mit dem Naturselbstdruck rekonstruiere ich dafür eine vergessene Drucktechnik, die Mitte des 19. Jahrhunderts perfektioniert wurde und beziehe sie auf die zeitgleich von William Henry Fox Talbot durchgeführten fotografischen Experimente. Für seine Versuche, Lichteinfall auf Papier festzuhalten, verwendete Talbot Pflanzen, die er mit Glasplatten auf das präparierte Papier presste und dem Sonnenlicht aussetzte, um sie anschließend als negative Schattenrisse zu fixieren. Die so entstandenen botanischen Fotogramme basieren ebenso wie Naturselbstdrucke auf einer physischen Berührung mit ihrem Gegenstand. Der Naturselbstdruck beginnt mit einem Abdruck des zu druckenden Gegenstands in Blei, von dem über zweimalige galvanoplastische Abformung eine Kupfertiefdruckplatte erzeugt wird. Produktionstechnisch ist es da wie dort der Abdruck, die physische Berührung, die das Bild erzeugt.

William Henry Fox Talbot, botanisches Fotogramm, circa 1839.
Foto: CC-0

Diese Parallele zwischen dem Naturselbstdruck und den Anfängen der Fotografie unterstreicht nicht nur der Titel – "The Pencil of Nature" heißt auch die Publikation, mit der Talbot 1844-46 seine fotografisches Verfahren vorstellte – sondern auch die Wahl der Motive: die Naturselbstdrucke zeigen Exemplare der Pflanzen, die sich auf Talbots Fotogrammen identifizieren lassen. Durch diesen Bezug auf die Geschichte der Fotografie bringt meine Serie auch die unterschiedlichen Zeitlichkeiten ins Spiel, die Fotografie und Naturselbstdruck auszeichnen. Während wir bei den Belichtungszeiten in der Fotografie meist von Sekundenbruchteilen sprechen, erfordern die einzelnen Produktionsschritte des Naturselbstdrucks längere Zeiträume. Auf der Motiv-Ebene kommt mit den Pflanzen eine weitere Zeitlichkeit hinzu: die zyklische Zeit der Natur, die für uns eine ahistorische Zeit ist.

Anna Artaker, aus der Serie "The Pencil of Nature", Naturselbstdruck Pestwurz (Petasites sp.), 2017.
Foto: Ulrich Dertschei
Naturselbstdruck Pestwurz (Petasites sp., Detail), 2017.
Foto: Ulrich Dertschei
Naturselbstdruck Ruprechtskraut (Geranium robertianum), 2017.
Foto: Ulrich Dertschei
Naturselbstdruck Ruprechtskraut (Geranium robertianum, Detail), 2017.
Foto: Ulrich Dertschei

Die verschiedenen Ebenen von Zeitlichkeit und Historizität, die "The Pencil of Nature" anspricht, sind damit nur angerissen, doch ich hoffe, dass die Werkserie im Sinne Didi-Hubermans eine Komplexität der Zeit begründet. Dabei will ich nicht nur Anschauungsmaterial für ein Nachdenken über das dialektische Bild liefern, sondern ein solches Denken in Gang setzen: Betrachter sollen die freudige Erregung verspüren, die der Historiker empfindet, der auf eine vielversprechende Quelle stößt. (Anna Artaker, 15.8.2018)