Die türkische Lira wird immer weniger wert – und das ist nicht nur schlecht.

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Eines ist klar: Die türkische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise. Doch worin diese Krise besteht, darüber gibt es Verwirrung. Innerhalb und außerhalb des Landes wird meist der Absturz der Landeswährung als zentrales Problem genannt. Doch der Sturzflug der Lira ist im schlechtesten Fall ein Symptom für die Schwächen der türkischen Wirtschaft, im besten Fall aber die wirkungsvollste Medizin.

Denn die Lira war seit vielen Jahren überbewertet. Das sieht man daran, dass die Türkei ein massives Defizit in ihrer Leistungsbilanz aufweist, das seit Jahren bei rund sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegt. Das Land importiert viel mehr, als es exportiert, konsumiert mehr, als es produziert. Kurz gesagt: Das Land lebt weit über seine Verhältnisse – und benötigt daher einen ständigen Zufluss von Auslandskapital, um diese Lücke zu füllen.

Abhängig vom Auslandskapital

Im vergangenen Jahrzehnt war dies kein Problem. Europäische Banken gaben Kredite, ausländische Investoren finanzierten Projekte, und Auslandstürken überwiesen einen Teil ihrer Gehälter an ihre Verwandten oder errichteten damit ein Eigenheim. Aber die autoritäre Politik von Präsident Tayyip Erdoğan hat die Kapitalgeber zunehmend verschreckt. Seit die Gelder ausbleiben, sinkt der Kurs der Lira. Und das ist gut.

Denn eine schwächere Währung ist der beste Weg, um ein Leistungsbilanzdefizit zu bekämpfen. Importe werden teurer, weshalb mehr Selbstproduziertes gekauft wird, und Exporte werden günstiger und wettbewerbsfähiger, vor allem in der Industrie. Dass die Türkei trotz einer überbewerteten Währung ein beliebtes Reiseland ist, liegt an der hohen Effizienz der Tourismuswirtschaft. Außer Sonne, Strand und Landwirtschaft hat das Land auf dem Weltmarkt wenig zu bieten.

Angst vor Pleitewelle und Hyperinflation

Dass der Kurssturz der Lira dennoch große Sorgen bereitet, hat zwei Gründe. Erstens haben sich viele türkische Banken, Unternehmen und Haushalte in fremder Währung verschuldet. Bei einer Abwertung müssen für die Rückzahlung der Schulden mehr Lira auf den Tisch gelegt werden. Es droht daher eine Pleitewelle.

Und zweitens werden bei einer Abwertung Importe teurer, was die Inflation antreibt. Bis zur Finanzkrise 2001 litt die Türkei unter einer ständigen hohen Inflation, zeitweise sogar unter Hyperinflation, nun wird eine Rückkehr zu dieser unglücklichen Ära befürchtet. Und wenn die Preissteigerungen durch höhere Löhne ausgeglichen wird, dann leidet darunter auch die Wettbewerbsfähigkeit – und die Leistungsbilanz bleibt rot. Eine Spirale von hoher Inflation und ständiger Abwertung wäre die Folge. Für den Wirtschaftsstandort Türkei wäre dieser Verlust an Stabilität ein schwerer Rückschlag.

Die Geldpolitik kann es richten

Doch so weit muss es nicht kommen. Die Türkei könnte dem Beispiel Brasiliens folgen, das 1998 als Spätfolge der Asien- und Russland-Krise auch abwerten musste, aber nach einem ersten Inflationsschub wieder zur Preisstabilität zurückkehrte. Das gelang, weil die Notenbank die Zinsen erhöhte und damit die inflationären Erwartungen dämpfte.

Auch die türkische Notenbank müsste jetzt rasch die Zinsen erhöhen, weniger um die Lira zu stützen, als um die Inflation zu bekämpfen. Das lehnt Erdoğan bekanntlich ab, weil höhere Zinsen kurzfristig das Wachstum schwächen und die Finanzierung seiner milliardenschweren Bauprojekte erschweren. Der Präsident rechtfertigt dies mit der abstrusen Behauptung, hohe Zinsen würden die Inflation steigern. Es war Erdoğans Einmischung in die Geldpolitik, die die Kapitalflucht weiter angeheizt hat.

Zu einem nachhaltigeren Wachstum

Aber gerade das Ausmaß der Währungskrise erhöht die Chancen, dass Erdoğan einlenkt und eine Stabilisierungspolitik der Notenbank akzeptiert. Das würde zwar vorerst Wachstum kosten, vielleicht sogar eine Rezession verursachen, während die schwache Lira das Leben für viele Türken teurer macht. Aber wenn der Wechselkurs niedrig bleibt und die Inflation dann wieder sinkt, dann wäre eines der größten wirtschaftlichen Probleme des Landes gelöst. Die Menschen würden sich zwar bei Auslandsreisen ärmer fühlen, aber die Wirtschaft wäre wieder wettbewerbsfähiger und das Wachstum nachhaltiger als in früheren Jahren. Die Türkei würde nicht mehr über ihre Verhältnisse leben. (Eric Frey, 15.8.2018)