Ein Abschnitt der Morandi-Brücke ist eingestürzt.

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Im Umkreis der Unglücksstelle wurden vorsorglich Wohnhäuser evakuiert.

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Die Brücke ist Teil der Hauptverkehrsader Richtung Südfrankreich.

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Die Ursache ist offiziell noch unklar. Es wird aber bereits über Konstruktionsfehler spekuliert.

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Rettungskräfte arbeiteten die ganze Nacht durch, um Verschüttete zu befreien.

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Genua – Die Morandi-Brücke im norditalienischen Genua, bei deren Einsturz am Dienstag dutzende Menschen ums Leben kamen, ist schon lange umstritten. Die Ingenieurswebseite "ingegneri.info" nannte das Unglück am Mittwoch eine "vorhersehbare Tragödie" – es habe immer schon "strukturelle Zweifel" am Bau des Ingenieurs Riccardo Morandi gegeben.

Die Brücke wurde zwischen 1963 und 1967 gebaut. Der inzwischen verstorbene Morandi ist für seine Brückenbauten berühmt, bei denen er eine spezielle Konstruktionsweise mit Spannbeton, also Beton mit gespannten Stahleinlagen, verwendete. Schon lange seien allerdings die Probleme dieser Bauart bekannt, kritisierte Antonio Brencich, ein Experte für Betonbau von der Universität Genua.

Technologie hat versagt

"Morandi wollte eine Technologie verwenden, die er patentiert hatte und die danach nicht mehr benutzt wurde", sagte er dem Sender Radio Capitale. Diese Technologie habe "versagt". Brencich hatte schon vor Jahren Bedenken über das 1,18 Kilometer lange Bauwerk geäußert.

Eigentlich waren Brücken wie diese auf etwa ein Jahrhundert angelegt, schrieb "ingegneri.info" – die Morandi-Brücke sei aber bereits in den Jahren nach der Fertigstellung baufällig gewesen. Zuletzt mussten demnach Anfang der 2000er-Jahre Tragseile ersetzt werden, die erst in den 1980er- und 1990er-Jahren eingebaut wurden.

Kritik an Betreibergesellschaft Autostrade

Es besteht kein Zweifel, dass die Tochtergesellschaft des Unternehmens Benetton, Autostrade, nun als Hauptverantwortlicher für den Brückenunfall gilt. Sie hätten zu wenig in Erhaltungsarbeiten investiert, um neue Straßenbau- und Brückenprojekte zu finanzieren, kritisiert die Regierung. Tatsächlich sind die Erhaltungsinvestitionen von 232 Millionen Euro im ersten Halbjahr 2017 auf 197 Millionen im Vergleichszeitraum 2018 zurückgegangen. Autostrade zahlt jährlich 2,4 Prozent der Mauteinnahmen an Konzessionsgebühren. Im Jahr 2017 hat sich der Umsatz auf 3,9 Milliarden Euro belaufen, der operative Gewinn machte 2,4 Milliarden Euro aus.

Autostrade ist zudem der Partner von der deutschen Baufirma Hochtief beim nahezu abgeschlossenen Übernahmeprojekt des spanischen Autobahnbetreibers Abertis. Finanzanalysten bestätigen, dass der Brückeneinbruch Schatten auf die Übernahme werfen könnten, am Dienstag haben die Aktienkurse von Autostrade zeitweise mehr als zehn Prozent nachgegeben.

Die Verantwortlichen von Autostrade haben die Rücktrittsaufforderungen abgelehnt und die Vorwürfe zurückgewiesen. Man habe die Brücke auf vierteljährlicher Basis entsprechend den gesetzlichen Vorgaben kontrolliert, erklärte das Unternehmen.

Salvini gibt indirekt der EU Schuld

Verkehrsminister Danilo Toninelli (M5S) hat am Mittwoch Autostrade eine Strafzahlung von 150 Millionen Euro wegen vernachlässigter Investitionen angedroht und den Rücktritt des Vorstands gefordert. Auch Innenminister Matteo Salvini sprach sich für einen Entzug der bis 2024 laufenden Lizenz aus. Das sei das Mindeste, was man erwarten könne. Ihm zufolge stehen der Sicherheit des Landes aber auch die strengen Defizitregeln der EU im Wege: Geld, das für die Sicherheit ausgegeben werde, dürfe "nicht nach den strengen (...) Regeln berechnet werden, die Europa uns auferlegt", sagte der EU-kritische Lega-Politiker.

Die EU-Kommission dementierte die Vorwürfe der italienischen Regierung: EU-Staaten könnten politische Prioritäten im Rahmen der geltenden Haushaltsregeln selbst festlegen – "zum Beispiel die Entwicklung und den Erhalt der Infrastruktur", sagte ein Sprecher am Mittwoch. Tatsächlich habe die EU Italien sogar dazu ermuntert, in die Infrastruktur zu investieren.

2,5 Milliarden Euro

Der Sprecher der EU-Kommission betonte hingegen, Italien erhalte im aktuellen Budgetrahmen 2014 bis 2020 2,5 Milliarden Euro aus dem Europäischen Struktur- und Investitionsfonds, etwa für Investitionen ins Straßen- oder Schienennetz. Zudem habe die Behörde im April italienische Pläne zur Verlängerung zweier Autobahnkonzessionen sowie eine Obergrenze für die Mautgebühren auf diesen Autobahnen genehmigt. Dies solle Investitionen von rund 8,5 Milliarden Euro ermöglichen – unter anderem in der Region von Genua.

Eine Luftaufnahme der Unglücksstelle. Zu dem Zeitpunkt waren nur 22 Todesopfer bekannt. Mittlerweile ist die Zahl weiter gestiegen.

Rettungskräfte arbeiten weiter

Die Polizei bestätigte unterdessen, dass bei dem Einsturz Dienstag früh mindestens 39 Menschen ums Leben gekommen sind. Allerdings könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich die Opferzahl noch weiter erhöhe, sagte eine Polizeisprecherin. Auch drei Kinder im Alter von acht, zwölf und 13 befinden sich unter den Toten. Rettungskräfte arbeiteten die Nacht durch, um Überlebende in den Trümmern zu finden. Ein etwa 80 Meter langer Abschnitt der Brücke war bei Starkregen eingestürzt.

Die italienische Regierung will eine nationale Staatstrauer ausrufen. Das kündigte der Präsident der Region Ligurien, Giovanni Toti, am Mittwoch laut Nachrichtenagentur Ansa an. Wann und wie lange die Staatstrauer gelten soll, war zunächst unklar. Sie verhängte einen zwölfmonatigen Ausnahmezustand in Genua. Bei einer Krisensitzung des Ministerrates in Genua sei außerdem eine Soforthilfe von fünf Millionen Euro freigegeben worden, sagte Ministerpräsident Giuseppe Conte.

Bergungsarbeiten schwierig

Auch am Mittwoch befanden sich immer noch Autos in den gewaltigen Trümmern. "Seit gestern sind verschiedene Fahrzeuge gefunden worden und es gibt noch immer Fahrzeuge, die (...) zu sehen sind", sagte Federica Bornelli vom Roten Kreuz.

Die Bergungsarbeiten gestalten sich schwierig: Ein einziges Auto zu bergen habe in der Früh vier bis fünf Stunden gedauert. An jeder Stelle müsse das Sicherheitsrisiko für die Einsatzkräfte neu bewertet, erst dann könne gearbeitet werden. "Die Arbeit ist in mentaler und physischer Hinsicht sehr anstrengend."

Dem privaten Betreiber Autostrade zufolge ist die Ursache dafür noch unklar. Die Morandi-Brücke gehört zur Mautautobahn A10, einer Hauptverkehrsader an die italienische Riviera und nach Südfrankreich.

Das Unglück ereignete sich in der norditalienischen Stadt Genua.
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Augenzeugen hatten berichtet, dass kurz vor dem Einsturz ein Blitz in die Brücke eingeschlagen habe. Doch Staatsanwalt Francesco Cozzi ließ im Gespräch mit RaiNews24 erkennen, dass auch die Ermittler von menschlichem Versagen als Ursache ausgehen. Zum jetzigen Zeitpunkt von einem Unglück zu reden, obwohl es sich bei der Brücke um ein "Werk von Menschen" handle, das Instandhaltungen unterzogen worden sei, "erscheint mir ziemlich gewagt", sagte Cozzi.

Die Infrastruktur in Italien ist vielerorts dramatisch veraltet. Die Katastrophe an der "kranken Brücke", wie "Corriere della Sera" sie nennt, lässt nach mehreren weniger dramatischen Einstürzen in den vergangenen Jahren nun die Alarmglocken umso lauter schrillen. Laut der Tageszeitung "La Repubblica" sind um die 300 Brücken und Tunnel marode.

Brücken in den 60er-Jahren wurden für eine Lebensdauer von 70 Jahren gebaut, sagt Zivilingenieur Helmut Wenzel in der ZIB2.
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Kritik an der Arbeit Morandis

Die Konstruktion der Brücke wurde bereits seit ihrem Bau in den 1960er-Jahren kritisiert. Nicht ausgereifte Bautechnik sei zum Einsatz gekommen, sagt unter anderem der Zivilingenieur Helmut Wenzel in der ZIB2 am Dienstagabend. Keines der Werke des Architekten Riccardo Morandi würde man "heute so mehr bauen". Dass die Brücke zu alt gewesen sei, lässt Wenzel nicht gelten. Wären heute Brücken auf rund 120 Jahre Lebenszeit ausgelegt, seien es in den 60er-Jahren immerhin 70 Jahre gewesen. Damals habe man aber mit weniger hohen Temperaturunterschieden zu rechnen gehabt. Der Klimawandel spiele auch beim Baukonstruktionen eine Rolle, sagt der Zivilingenieur. (Thesy Kness-Bastaroli aus Mailand, APA, red, 15.8.2018)