Nintendo lässt wichtige Videospielegeschichte verschwinden.

Foto: Nintendo

Mein Freund G. ist ein Verbrecher. In hingebungsvoller Kleinarbeit hat er sich einen Raspberry Pi zur Retrokonsole umgebaut, auf der er mit seinem sechsjährigen Sohn abends die großen, längst vergessenen Klassiker der 8-bit-Ära spielt. Keine Frage, dass er außerdem sowohl eine Switch sowie die Retro-Konsolen aus dem Haus Nintendo ebenso gekauft hat. "Aber es gibt halt nicht alle Spiele dort, und mein Original-NES aus den Achtzigerjahren ist mir auf dem Dachboden kaputt geworden", so G.

Zum Glück gibt es Emulatoren, mit denen die korrodierte Hardware als Software weiterleben darf. Und die Spiele, die in physischer Form als verstaubte Cartridges auf ungezählten Dachböden vergammeln, konnte man sich die längste Zeit aus dem Internet holen. Die ROM-Szene war jahrelang ein verlässliches Archiv selbst für die obskursten Spiele. Mehr noch: Unter dem Suchbegriff "Abandonware" lassen sich seit Jahren so gut wie alle Spiele schnell und sicher besorgen, die nicht mehr vertrieben, verkauft oder sonstwie wirtschaftlich verwertet werden. Es ist eine legale Grauzone, in der etwas Bemerkenswertes erblüht: ein historisches Archiv eines ganzen Mediums, das auf legalen Plattformen schlicht nicht existiert.

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Nintendo zerstört einen wertvollen Dienst

Genau dieses Archiv steht nun vor einer ungewissen Zukunft. Nintendo attackiert mit seinen Klagen gegen große ROM-Portale eine Subkultur, die gerade in einem Medium mit Gedächtnisschwund einen wertvollen Dienst erbrachte. Dass mit dem Schließen der eingeschüchterten Portale viele historische Spiele schlicht und ergreifend verschwinden werden, ist Nintendo egal. Dass einzelne, potenziell lukrative Titel für Nintendos reale und virtuelle Retro-Konsolen erscheinen werden, ist da nur ein schaler Trost.

Darf Nintendo das? Zweifellos. Aber: Muss das sein? Eigentlich nicht. Die finanziellen Verluste, die Nintendo durch die lebendige Retro-Emulationsszene entstehen, lassen sich kaum beziffern – vor allem, weil die allermeisten historischen ROMs heute schlicht nicht mehr käuflich erwerbbar sind. Statt jene Titel, die für die neuen Retrokonsolen sowie Nintendos Virtual Console eben doch gekauft werden können, gezielt von den ROM-Portalen entfernen zu lassen, haut Nintendo nun aber mit dem ganz großen Hammer zu. Weg damit! Ein weiterer Beleg für die sattsam bekannte Erkenntnis, dass der japanische Traditionskonzern mit dem Internet seine grundlegenden Verständnisprobleme hat.

Spiele – nur ein Produkt?

Der Verlust dieser Subkultur in der Grauzone ist nicht nur für Retro-Liebhaber bitter, sondern auch für die Games-Studies, aber auch für Entwickler, wie Bennett Foddy festhält. Wenn es künftig nicht einmal mehr die halb-legale Option gibt, die Vergangenheit des aktuell kommerziell erfolgreichsten Unterhaltungsmediums dieses Planeten aufzubewahren, bedeutet dies schlicht, dass die mächtige Industrie einen stur kommerziellen Blick auf ihr Produkt hat. Die Liebe retro-nostalgischer Spielerinnen und Spieler, der wissnechaftlich-einordnende Blick der akademischen Welt oder schlicht nur das kulturwissenschaftliche Interesse der Archivare, hier ein Kulturgut vor der Auslöschung zu bewahren? Alles nichts im Vergleich zur egal wie unwahrscheinlichen kommerziellen Restverwertbarkeit eines Produkts mit demselben kulturellen Stellenwert wie eine Waschmaschine.

Das zeigte schon die Entscheidung der ESA vor einigen Jahren: Nicht einmal Museen oder Archiven soll die Umgehung von Kopierschutzmaßnahmen großer Online-Spiele erlaubt sein, mit der die Titel effektiv auch dann greifbar bleiben würden, wenn es die Rechteinhaber zum Beispiel gar nicht mehr als Unternehmen gibt. Nach dem Willen der Industrie sollen Spiele wie "WoW" lieber verlorengehen, statt auch nur in Einzelfällen offiziell für Archivierungszwecke legal modifiziert werden zu dürfen – eine Initiative der Electronic Frontier Foundation, für kulturelle Einrichtungen zum Zweck der Archivierung hier Ausnahmen zu gewähren, wurde mit Verweis auf "Piraterie" kalt abgewiesen.

Ein Kulturgut bewahren

"Digital" könnte de facto "unsterblich" bedeuten, wenn es um Kulturprodukte geht. Im Gegensatz zu fast allen anderen Kulturgütern sichert die verlustfreie Speicherung digitalen Gütern ein prinzipiell endloses Leben, auch wenn die Original-Trägermedien und sogar die Hardware längst Korrosion und Staub zum Opfer gefallen sind. Absurderweise steht es aber um die Bewahrung des digitalen Kulturguts Videospiel aktuell schlechter als um jene anderer, eigentlich viel vergänglicherer Kulturgüter.

Ja, ausgewählte einzelne Titel leben als Remakes wieder auf; ja, "offizielle" Retro-Konsolen wie das NES und SNES Mini oder diverse "virtuelle Konsolen" sorgen zumindest für ein selektiv-partielles Wiedersehen mit Spielen, die man mangels Hardware oder Trägermedien nicht mehr spielen könnte. Ja, für PC-Spieler gibt es das wachsende Universum von Anbietern wie GOG, die mit viel Liebe und beträchtlichem Kurationsaufwand dafür Sorge tragen, dass zumindest kommerziell wiederverwertbare große Titel der Games-Geschichte auch auf neuer Hardware lauffähig sind. Doch reicht das aus, um die Geschichte eines Kulturguts zu bewahren, das von Jahr zu Jahr kommerzielle Rekorde bricht und sich gesellschaftlich mehr und mehr etabliert?

Wenn ein in den 1950er-Jahren herausgegebenes Taschenbuch langsam, aber sicher in meinem Regal zerfällt, finde ich mit großer Wahrscheinlichkeit in irgendeiner Bibliothek ein Exemplar; und Initiativen wie Googles Digitalisierungsprojekt sorgen dafür, dass auch alte Werke nicht völlig verschwinden. Ausgerechnet bei digitalen Spielen, wo diese Konservierung mit minimalem Aufwand geschehen kann, wird diese Bewahrung nicht nur nicht unterstützt, sondern aktiv verhindert.

Wir spielen SNES Mini.
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Ein sinnloser Kampf

Was von diesem Kampf bleiben wird, ist die traurige Erkenntnis, dass Nintendo und weiten Teilen der Branche ihr Produkt, aber auch ihre Fans egal sind – und dass die eigenen Spiele primär als geistlose, rein kommerzielle Konsum- statt Kulturgüter verstanden werden. Wenn wenigstens interessierten akademischen oder musealen Einrichtungen beim Aufbau eines spielkulturellen Archivs geholfen würde, wäre schon viel getan. Stattdessen führt man – wie die Musik- und Filmindustrie vor Jahren – einen gehässigen Kampf gegen eine Nutzung, die man schlicht aus der Welt haben will, weil sie nicht ins kommerzielle Kasterldenken passt.

Und nützen, das sollte auch erwähnt werden, wird dieser Kampf – nichts. Die großen, professionell und mit viel Liebe betriebenen Emulationsportale mögen eingeschüchtert verschwinden; wer ROMs sucht, wird sie aber weiterhin finden, in den dunkleren Ecken des Netzes, verschüttet unter virenverdreckten Porno-Popups. Nintendo wird die ROMs nicht aus dem Netz vetreiben können – dafür wird eine Kultur zerstört, die im halblegalen Duldungsbereich einer Grauzone jene Arbeit geleistet hat, die der Industrie zu teuer und offiziellen Einrichtungen wie Museen und Universitäten legal unmöglich war.

Statt eine lebendige, von Nostalgie und Fantum getragene nicht-kommerzielle Emulationskultur als Liebeserklärung an die Geschichte des Mediums zu umarmen und nach innovativen Wegen zu suchen, diese Kultur zu fördern und auf achtsame Art und Weise kommerziell zu nutzen, treiben die Anwälte von Nintendo Menschen wie meinen Freund G. aus einer legalen Grauzone in die Illegalität. Dass die Arbeit von Enthusiasten, die einen wertvollen Dienst am Kulturgut Videospiele erbringen, nicht unterstützt, sondern aktiv verhindert wird, ist bitter; dass der massivste Angriff auf diese Kultur von Nostalgie und Wertschätzung ausgerechnet von Nintendo kommt, das im Herzen vieler Retro-Fans einen ganz besonderen Platz einnimmt, hinterlässt einen besonders üblen Nachgeschmack.

Juristisch gesehen ist Nintendo im Recht – natürlich. Auf jede andere Art und Weise allerdings nicht. Moralisch und im Hinblick auf seine Verantwortung einem Medium gegenüber, das der japanische Spielekonzern entscheidend mitgestaltet hat. (Rainer Sigl, 18.08.2018)