Nerven wie Drahtseile: Das ist nur der Fall, wenn die Nervenleitungen von einer Myelinschicht ummantelt sind. Bei MS ist diese "Isolierung" beschädigt. Das kann man sich wie bei Kabeln vorstellen.

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Thomas Berger ist Neurologe und stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Innsbruck. Zudem leitet er die Multiple-Sklerose-Ambulanz Innsbruck.

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STANDARD: Derzeit gibt es 16 Medikamente zur Behandlung von multipler Sklerose (MS). Wie wählt man sie aus?

Berger: Die verfügbaren Interferon-beta-Präparate haben einen identen Wirkmechanismus, alle anderen Medikamente unterschiedliche Wirkweisen. Es gibt keinen eindeutigen Erkrankungsfaktor, der herangezogen werden kann, um dem Patienten eine individuelle Therapie anbieten zu können. Die Krankheitsaktivität kann ein Anhaltspunkt sein. Es macht auf jeden Fall einen Unterschied, ob die Schübe sehr häufig sind oder der Verlauf moderat bis mild ist.

STANDARD: Das Medikament Ocrevus ist das erste zugelassene Mittel gegen die progredient verlaufende MS, also eine sehr schwere Verlaufsform. Sie wird die Off-Label-Anwendung von Rituximab ablösen wird. Wirkt es besser?

Berger: Rituximab kennen wir seit langem. Dabei handelt es sich um einen Maus-Antikörper, der mit einem humanen Antikörper verknüpft ist. Ocrevus ist hingegen ein fast ausschließlich humanisierter Antikörper. Inwieweit der Unterschied klinisch bedeutsam ist, kann noch nicht beurteilt werden, weil es noch keinen Vergleich gibt. Sicher ist: Je höher der Anteil an nichtmenschlichem Antikörper, desto eher bildet der Körper Abwehr dagegen, im schlechtesten Fall hat er überhaupt keine Wirkung.

STANDARD: Welchen Zusatznutzen hat Ocrevus, das etwa viermal so viel wie Rituximab kostet?

Berger: Die Wirksamkeit von Ocrevus ist in klinischen Studien belegt und daher – im Gegensatz zu Rituximab – zur Behandlung bei MS zugelassen. Ärzte sind zu ökonomischen Verschreibungen verpflichtet, müssen aber auch primär evidenzbasiert handeln, das sind wir unseren Patienten und der Öffentlichkeit uneingeschränkt schuldig.

STANDARD: Welche Entwicklungen in der MS-Therapie sehen Sie in den nächsten zehn Jahren?

Berger: Wir werden die Erkrankung nicht heilen können. Das realistische Ziel ist es, sie zu stoppen. Das können wir teilweise schon, es gibt aber noch Luft nach oben. Ich glaube nicht, dass uns neue Medikamenten da weiterhelfen können, die derzeitigen Mittel wirken bei 80 bis 90 Prozent der Patienten. Was noch fehlt, ist eine stratifizierte Therapie, mit der wir jedem Patienten individuell sagen können, welches Medikament das richtige ist. Dazu brauchen wir verlässliche Biomarker. Das ist machbar und wird uns sicher gelingen.

STANDARD: Wie legen Sie gegenwärtig die Behandlung fest?

Berger: MS betrifft oft junge Frauen. Ein Kriterium ist beispielsweise, ob eine Patientin schwanger werden möchte. Ist das der Fall, reduziert sich die Auswahl automatisch, denn manche Medikamente dürfen in der Schwangerschaft nicht eingenommen werden. Ansonsten orientiert sich die Behandlung primär an der Empirie und der individuellen Situation des Patienten. Kriterien sind etwa, wie gut sich die Symptome nach einem Schub zurückgebildet haben. Auch das Nutzen-Risiko-Profil einer Therapie muss immer abgewogen werden. Letztendlich gilt: Wenn eine Therapie begonnen wird, und sie zeigt keinen Erfolg, muss so rasch wie möglich eine Alternative probiert werden.

STANDARD: Wird multiple Sklerose deshalb auch als Krankheit mit den 1000 Gesichtern bezeichnet?

Berger: Es kann eine Vielzahl neurologischer Beschwerden auftreten. Das reicht von Sehstörungen über motorische Beeinträchtigungen bis hin zu Gleichgewichts- und Blasenstörungen. Das Krankheitsbild ist sehr vielfältig. Prinzipiell können alle neurologischen Störungen auftreten – ausgenommen jene, die mit dem peripheren Nervensystem zusammenhängen. Zudem gibt es sehr unterschiedliche Verläufe. Ich kenne Patienten, die hatten einmal in ihrem Leben einen Schub und dann nie wieder. Andere haben viele und heftige Krankheitsschübe.

STANDARD: Sind die Ursachen genetisch bedingt?

Berger: MS ist definitiv keine genetische Erkrankung. Sicher ist, dass es sich um eine Autoimmunerkrankung handelt. Was letztendlich zum Ausbruch der Erkrankung führt, ist noch unklar. Lange galt das Epstein-Barr-Virus (EBV) als potenzieller Auslöser. Es ist aber schwierig, einen kausalen Zusammenhang herzustellen, denn in unseren Breitengraden beträgt der Durchseuchungsgrad mit EBV 97 Prozent. Das heißt, fast jeder in der Bevölkerung hatte irgendwann in seinem Leben Kontakt mit dem Virus.

STANDARD: Gibt es typische Frühsymptome?

Berger: Relativ häufig ist die einseitige Sehstörung. Besonders wenn junge Menschen zwischen 20 und 30 Jahren von einer Entzündung des Sehnervs betroffen sind, steckt häufig MS dahinter.

STANDARD: Steigen die Fallzahlen?

Berger: Ich beschäftige mich seit 25 Jahren mit MS. In dieser Zeit ist die Sensitivität gegenüber der Erkrankung stark gestiegen, dadurch haben auch die Diagnosen unter jungen Menschen zugenommen. Allein deshalb muss man bei der Interpretation von Prävalenzdaten sehr vorsichtig sein. Die Zunahme der Erkrankungshäufigkeit weltweit, besonders im arabischen Raum und Südamerika, ist aber definitiv auf die steigende Prävalenz unter Frauen zurückzuführen.

STANDARD: Warum sind Frauen häufiger als Männer betroffen?

Berger: Als ich Medizin studierte, lag die Geschlechterverteilung bei zwei zu eins, Frauen erkrankten also doppelt so häufig wie Männer. Mittlerweile liegt das Verhältnis bei vier zu eins. Bei fast allen Autoimmunerkrankungen ist die Prävalenz von Frauen höher. Es könnte also sein, dass die Autoimmunität bei Frauen leichter aus dem Ruder läuft.

STANDARD: Ist das auf Unterschiede im Hormonhaushalt zurückzuführen?

Berger: Es wurden unterschiedliche Hormone und die Antibabypille ins Visier genommen, es konnte jedoch kein Zusammenhang mit MS gefunden werden. Das Immunsystem der Frau ist aber definitiv anders aufgebaut als das des Mannes – allein schon deshalb, weil sie schwanger werden können. Hätten Frauen ein männliches Immunsystem, würde das Kind abgestoßen werden. Möglicherweise hängt damit die ungleiche Verteilung zusammen.

STANDARD: Werden Frauen und Männer unterschiedlich behandelt?

Berger: Es gibt seit einigen Jahren die Gender-spezifische Medizin. Wenn eine Erkrankung mit einer derartigen Dominanz Frauen betrifft, wird es zukünftig möglicherweise auch geschlechterspezifische und individuelle Behandlungen geben.

STANDARD: Spielt der Lebensstil eine Rolle?

Berger: Es gibt keine Evidenz, dass spezielle Ernährung, Diäten oder das Vermeiden von bestimmten Lebensmitteln einen positiven Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben. Als Mediziner kann ich nur das empfehlen, was Hand und Fuß hat. Mein Credo ist: MS-Kranke sollten keine Dinge tun, die sie einschränken. Manche glauben etwa, dass sie keine Schokolade mehr essen dürfen. Bedeutet eine Schokoladenabstinenz eine massive Einschränkung für den Betroffenen, rate ich von solchen Vorhaben ab. Wenn sich ein Patient oder eine Patientin hingegen immer schon speziell anders ernähren wollte und seine Krankheit nun als Anlass nimmt, sollte er oder sie das auch tun. Das Wichtigste: Dem Patienten muss es mit der Entscheidung gutgehen.

STANDARD: Was bringen Nahrungsergänzungsmittel?

Berger: Bei jeder chronischen Erkrankung gibt es diese Geschäftemacherei. Nahrungsergänzungsmittel werden niemandem von einem Arzt verschrieben, sondern man muss sich diese Präparate selbst kaufen. Ich empfehle das nicht.

STANDARD: Welche Rolle spielt Cannabis?

Berger: Medizinisches Cannabis wurde für sehr viele neurologische Erkrankungen untersucht, angefangen von Schädel-Hirn-Trauma über MS bis hin zu Tourette-Syndrom und Parkinson. Unterm Strich kann gesagt werden, dass Cannabinoide keinesfalls krankheitsmodifizierend sind, sie haben aber symptomatische Effekte. In der EU ist eine THC-Cannabidiol-Mischung für die Behandlung von MS-Patienten zugelassen, die an nicht kontrollierbarer Spastizität leiden. In Österreich wird das Mittel aber nicht von der Krankenkasse bezahlt. (Günther Brandstetter, 1.9.2018)