Ana Roš geht nicht ein-, sondern zweimal am Tag laufen. Frisch geduscht liegen ihre Locken ausnahmsweise glatt am Kopf an. Sie trägt Skinny-Jeans, einen V-Pullover, knallbunte Laufschuhe und eine Handtasche mit Platz für ein ganzes Leben. Auch das Fell ihres Cockerspaniels Prince ist nass. Aber nicht vom Duschen – Prince geht gerne schwimmen, Ana Roš gerne laufen, so einfach ist das. Von Drežnica aus, einem Dorf am westlichsten Zipfel Sloweniens, zieht es die Spitzenköchin in den Wald.

Noch ist das Gras feucht vom Regen. Neben ihr spaziert Miha, den alle im Dorf nur "den Schönen" nennen. Zweimal pro Woche geht er im Auftrag des Hiša Franko Kräuter sammeln. "Träum nicht so viel, Miha", ermahnt die Chefin. Noch ist der Korb fast leer.

"Das erste Mal mit meinem Vater auf der Jagd habe ich geweint, als er ein Reh erlegte"

Die kulinarische Welt ist sich einig: Das Restaurant Hiša Franko hat nur deswegen keinen Stern, weil sich bislang noch kein Michelin-Tester auf den Weg nach Slowenien gemacht hat. Dabei ist dieser Weg so schön – quer geht es durch das Soča-Tal hindurch, über den gleichnamigen Fluss, so blau, dass es in den Augen schmerzt, das Wasser so klar, dass man die Forellen darin sehen kann. Einige von ihnen bereitet Ana Roš regelmäßig in ihrer Küche zu. Wie viele ihrer Kollegen ist auch sie Anhängerin des von der New Nordic Cuisine inspirierten Null-Kilometer-Prinzips. Es besagt, dass alle Zutaten aus der unmittelbaren Region stammen müssen.

Im Fall von Ana Roš ist es die Region Primorska und der Ort Kobarid, in dem sie aufgewachsen ist. "Als Kind habe ich viele Wochenenden in den Bergen verbracht", erzählt sie beim Waldspaziergang, der eher ein Lauf ist. "Als ich zum ersten Mal mit meinem Vater auf die Jagd ging, habe ich geweint, als er ein Reh erlegte. Er sagte, ich solle die Klappe halten." Früher war Bojan Roš Arzt, heute betreibt er ein Bergresort, das man vom Restaurant seiner Tochter aus sehen kann. Bis heute ist die 45-Jährige für viele in Kobarid "die Tochter des Arztes", dabei ist sie alles andere als "die Tochter von".

In ihrer Jugend war Ana Roš Teil der slowenischen Skinationalmannschaft, ein Unfall als Siebzehnjährige zerstörte den Traum vom Profisport. Sie begann stattdessen, dem Wunsch ihres Vaters gemäß, Internationale Beziehungen zu studieren. Bei einem Abendessen im Hiša Franko lernte sie den Sohn des Besitzers kennen. Es war Liebe auf den ersten Drink. Und schließlich schmiss sie ihr Studium hin, was ihren Vater entsetzte.

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Ana Roš in der Küche ihres Restaurants.
Foto: Reuters/mizulovic

Kräuter für den Schnaps

Ana steuert gerade auf eine Waldlichtung zu, an deren Rand sich ein Steinhäuschen wegduckt. Erbaut hat es der Großvater des schönen Miha. Drinnen gibt es keinen Strom, stattdessen eine Pendeluhr, die der Enkelsohn jetzt aufzieht, als müsste die Zeit nur behutsam angestupst werden. An den Wänden hängt eine lokale Karnevalstracht, in der Ecke streckt sich ein Regal zur Decke, gefüllt mit allerlei Selbstgebranntem. Der Kräutersammler gießt einen Enzianschnaps ein, der alles bisher Gekannte in Sachen Bitterkeit in den Schatten stellt. Ana Roš trinkt gerne mit und gesteht: "Ich würde so gerne für einige Zeit hierbleiben, um mein Buch zu schreiben. Nur ich allein."

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Ein Gericht aus der Hiša Franko.
Foto: ap/gabrijan

Das Buch soll im Herbst nächsten Jahres erscheinen, ein Bildband mit viel Text, über das Hiša Franko und die Region, die dessen Küche prägt, dazu einige Rezepte. Diese bringen die am Buch beteiligte Autorin zur Verzweiflung, weil Roš sich weigert, ihre Rezepte aufzuschreiben, und behauptet, das meiste vergessen zu haben – und weil sie, statt Interviewtermine einzuhalten, lieber laufen geht, weil sie sonst wahnsinnig werden würde, wie sie sagt.

Der Medienrummel begann mit ihrem Auftritt in der Netflix-Serie Chef's Table. Plötzlich wollten Gäste aus aller Welt prüfen, ob das Wasser der Soča wirklich so schlumpfblau ist wie im Fernsehen (ist es), die Julischen Alpen wirklich so erhaben sind (sind sie). Sie wollten jene Frau treffen, deren Lebensgeschichte sich kein Drehbuchautor besser hätte ausdenken können.

Daniel Hlas

Es ist nämlich so: Ana Roš macht sich selbst nichts aus Essen. Als Sportlerin achtet sie auf ihren Proteinhaushalt, Vernunft geht über Genuss, Süßes hat ihr noch nie geschmeckt. Wie konnte aus ihr die "beste Köchin der Welt" werden, zu der sie 2017 ernannt wurde? Weil sie das Kochen angeht, wie sie alles im Leben angeht: mit härtester Disziplin. Nachdem sie sich mit ihrem Mann für die Übernahme des Hiša Franko verpflichtet hatte, las sie unzählige Kochbücher, besuchte die besten Restaurants der Welt und übte so lange, bis es nicht gut war, sondern perfekt.

Hochschwanger stand sie in der Küche, verlor das Kind im achten Monat, machte weiter. Heute ist sie Mutter eines vierzehnjährigen Sohns und einer dreizehnjährigen Tochter. Die Liebe zu ihren Kindern hält sie jedoch nicht davon ab, den Großteil ihres Lebens unterwegs zu sein, "dabei wird mir jedes Mal schlecht, wenn ich ein Flugzeug von innen sehe". Den einzigen freien Tag in der Woche verbaut sie sich mit der Entwicklung neuer Gerichte. Und ihr Mann? Valter Kramar ist im Restaurant für Käse und Wein zuständig, außerdem leistet er sich mit dem Hiša Polka im Zentrum von Kobarid einen Ort für rustikale slowenische Küche mit angeschlossener Brauerei, weit genug weg, um Abstand zu bekommen vom Lebenswerk seiner Frau, das einmal sein eigenes war. Wenn sie auf Reisen ist, kümmert er sich um die Kinder.

Zu den Besten gehören

In diesem Jahr belegte das Hiša Franko Platz 48 der Liste der "World's 50 Best Restaurants". Die Preisverleihung in Bilbao, erzählt Roš auf der kurzen Autofahrt von Drežnica nach Kobarid, habe sie aufgrund eines eitrigen Zahns mehr durchlitten als erlebt. Seither ist sie etwa vier Stunden am Tag mit Presseanfragen beschäftigt. Mehr als 500 Interviews gab sie allein letztes Jahr. Die meisten ihrer Gäste kommen aus dem Ausland, etwa siebzig Prozent davon aus Österreich. Diese sitzen dann in einem preiselbeerroten Zimmer, in dessen Mitte ein Baum wächst, oder im Wintergarten, in Hörweite eines murmelnden Bachs.

Die Köchin parkt den Geländewagen auf dem Parkplatz ihres Restaurants, bändigt die Locken zum Pferdeschwanz und marschiert in Richtung Küche. Zeit für den Abendservice. Zuvor geht es noch in den Käsekeller, wo Ricotta reift, durch eine Vorratskammer hindurch, in der Essig und fermentierte Feigen lagern, und in den Garten hinter dem Haus, wo schnell ein paar Kräuter abzupft werden, denn wer weiß schon, wie sorgfältig Miha heute gearbeitet hat.

Ana Roš verfolgt ein Null-Kilometer-Prinzip. Was das slowenische Soča
-Tal hergibt, verkocht sie zu Spitzengerichten.
Foto: Robert Ribic

Wasserkresse und Forelle

Und dann geht es schon in die Küche. Auf den Tisch kommen unter anderem die mit Kefir, Pollen und Buchweizen servierten Sommerblüten, das Wildkräuterbouquet mit Spargelemulsion und Kürbiskernöl, die wilde Wasserkresse zur Forelle, die einige Stunden zuvor noch im kristallklaren Wasser der Soča schwamm. Das Team des Hiša Franko ist auffällig international, mit hohem Frauenanteil. Sexismus in der Küche gibt es bei Ana nicht, stattdessen tragen ihre Mitarbeiterinnen Lippenstift, "weil Pink einer Küche guttut".

Ein Signature Dish gibt es auch nicht, weil die Chefin Routine nicht aushält. Und auch kein veganes Menü, dafür arbeitet sie zu gerne mit den Milchprodukten ihrer Heimat – etwa mit geräuchertem Joghurt, das sie mit Kartoffeln und Oktopus kombiniert, oder Cannabiskäse, den sie manchmal ihren Kindern gibt, "dann schlafen sie wie Babys". Nachdem sie den zweiten Dessertgang angekündigt hat – Pfirsich mit Waldmeister, Milch und lokalem Safran –, macht sich Ana auf den kurzen Heimweg. Es ist spät. Morgen wird sie früh aufstehen, um laufen zu gehen. Allein! (Eva Biringer, 31.8.2018)

Bibik Gourmand

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