Es ist zum Verzweifeln: Schüler werden nicht dort abgeholt, wo sie stehen – obwohl Lehrer genau das in ihrer Ausbildung gelernt haben.

Foto: Getty Images/iStockphoto

Ich bin Lehrerin, also selbst Teil des Systems. Ab und zu habe ich Gelegenheit, am Unterricht in verschiedenen Klassen des Pflichtschulbereichs in der Beobachterinnenrolle teilzunehmen. Hier meine Eindrücke anhand einer Beispielklasse – einer dritten Klasse in einer Mittelschule in Wien.

Die 26 Kinder sind mehrheitlich Burschen, es gibt nur wenige Mädchen in der Klasse. Deutsch als Muttersprache haben nur drei der Kinder. Alle übrigen Schülerinnen und Schüler kommen aus zirka acht verschiedenen Nationen, von Syrien über den Iran, Nigeria, Afghanistan bis hin zu diversen Balkanländern.

Mit dem Ertönen der Glocke betreten zwei Lehrpersonen die Klasse. Sehr bald wird deren Rollenverteilung klar: Eine Person ist die für den klassischen Frontalunterricht zuständige, die andere für die Disziplinierung der Kinder. Die Schüler werden aufgefordert, die Lehrkräfte stehend zu begrüßen. Während dieser Phase finden bereits erste Ermahnungen bis hin zu Beschimpfungen einzelner Kinder statt, die sich nicht adäquat verhalten, also nicht ruhig stehen oder noch gar nicht stehen, noch mit den Nachbarn reden, ihren Kaugummi noch nicht ausgespuckt oder die Kappe noch nicht abgenommen haben – oder überhaupt erst verspätet zur Tür hereinschlurfen.

Trichterunterricht

Nach dem "Setzen" findet der aus hunderten Jahren österreichischer Schulgeschichte bekannte "Trichterunterricht" statt: Die Lehrperson gibt Inhalte, Tempo, Lehr- und Lernmittel vor, schreibt eilig – und daher in für viele Kinder schwer lesbarer Schrift – an die Tafel. Währenddessen geht die zweite Lehrkraft durch die Bankreihen und zischt, bedroht, schreit und brüllt, damit die nötige Ruhe für den Frontalunterricht gesichert werden kann. Unfreundlichkeiten und Ungezogenheiten der Lernenden stehen verbale Untergriffe der Lehrkräfte gegenüber: "Halt den Mund!" – "Du brauchst gar nicht so deppert schauen!" – "Und deine Mutter soll ruhig kommen, die wird selber mit ihrem Leben nicht fertig und glaubt, sie kann sich für dich starkmachen!" – "Na, dein Vater kommt ja auch morgens nicht aus dem Bett!"

Die Luft in der Klasse wird immer stickiger, es fällt schwer, aufmerksam zu bleiben. Stoffspezifische Fachausdrücke, aber auch einfache Anweisungen sind vielen Kindern überhaupt nicht verständlich. Einem Großteil der Klasse fehlen die Basics, um dem Unterricht sprachlich zu folgen. Eine Übungsaufgabe nach der anderen wird vorexerziert, viele Kinder sitzen am Ende der Stunde mit unvollständigen Eintragungen da, viele Kinder bleiben im Lauf der Stunde auf der Strecke. Auch jene, die mehr wissen wollen, weil sie mit dem Stoff schon vertraut sind und Fragen dazu haben. Als die Glocke schrillt, war noch keine Zeit, einzelnen Kindern Feedback zu geben, auch für die Mitteilung über eine etwaige Hausübung bleibt keine Zeit mehr. Auch die Lehrkraft hat somit kein Feedback über den Ertrag dieser Unterrichtseinheit, weil sie davonstürzen muss, um pünktlich nach der Fünfminutenpause die nächste Klasse zu erreichen.

Für die Kinder beginnt mit dem Läuten der Glocke und dem Schließen der Lüftungsfenster die nächste Frontalunterrichtsstunde. Und dann die dritte und die vierte Stunde. Es wird gesessen und geschrieben und gesessen und geschrieben, stets unter der Auflage des kollektiven Schweigens – wie vor hundert Jahren.

Als ich nach vier Stunden erlöst aus der Klasse wanke – die Schüler begreiflicherweise laut brüllend hinausstürzen -, ist mir klar, warum Lernen so nicht funktionieren kann. Auf dem Gang kommen mir völlig erschöpfte, sichtbar gezeichnete Lehrpersonen entgegen. Für Freundlichkeit oder gute Umgangsformen mit den Kindern bleibt unter diesen Bedingungen schlichtweg keine Energie mehr übrig.

Ich frage mich: Wer oder was nötigt die Lehrkräfte, im Jahr 2018 so zu arbeiten? Wer schreibt vor, dass die Schulglocke nach 50 Minuten läuten muss, dass die Pausen nur fünf Minuten lang sein sollen, dass 26 Kinder mehrere Stunden hintereinander in einem einzigen Raum verbringen müssen, dass alle 26 in möglichst gleicher Zeiteinheit den im Lehrplan vorgesehenen Stoff lernen sollen?

Unterschiedliche Niveaus

· Warum wird nicht längst flächendeckend – den unterschiedlichen Niveaus entsprechend – in Klein- und Kleinstgruppen mit freier Zeiteinteilung gearbeitet?

· Warum werden die Kinder nicht dort abgeholt, wo sie stehen – so wie wir es in unserer pädagogischen Ausbildung gelernt haben?

· Warum arbeiten Lehrkräfte fast widerspruchslos unter Bedingungen, unter denen sie täglich leiden, weil sie stündlich erleben, dass das, was von ihnen gefordert wird, auf diese Weise ganz einfach nicht verwirklicht werden kann?

· Warum helfen sie immer noch wider besseres Wissen mit, das Unmögliche möglich zu machen?

· Warum schweigen sie in der Öffentlichkeit darüber, gehen trotz Krankheit zur Arbeit, begnügen sich mit winzigen Tischabschnittsbereichen an langen Konferenztischen als "Arbeitsplatz", nehmen ohne öffentlich hörbaren Widerspruch immer mehr Administrationslast, immer mehr pädagogische, organisatorische, längst sozialarbeiterische Nebenschauplätze in ihr Arbeitspensum auf?

· Warum helfen sie mit, ein System aufrechtzuerhalten, das zunehmend von oberflächenkosmetischen Sparmaßnahmen dominiert wird, in dem vertuscht werden soll, dass Schule immer mehr künftige Sozialhilfeempfänger produziert?

· Warum hält man an einem System fest, das Lehrkräfte ruiniert und Schülern ihre Chancen vorenthält?

· Warum werde ich bei meinen Schulbesuchen das Gefühl nicht los, dass Angst herrscht, dass es noch immer eine Art des "vorauseilenden Gehorsams" gibt, dass Lehrkräfte und auch Direktorinnen und Direktoren ängstlich im schulhierarchischen Traditionsgebäude stillhalten?

Eiertänze

Jahr für Jahr werden stillschweigend systemerhaltende Eiertänze mitvollführt. Notenskalen oder -modi werden verändert, damit nicht sichtbar wird, dass unter den Bedingungen von heute Schule von gestern die Schüler nicht mehr ans Ziel bringen kann. Fantasievolle Schulnamen werden erdacht, ausgeklügelte Schulprofile formuliert, schulinterne Fortbildungen nach vorgegebenen Themen durchexerziert. All das hilft mit, weiterhin erfolgreich am Wesentlichen vorbeizuschrammen.

Es gibt immer mehr mutige Direktoren, die an ihren Schulen modernen, zeitgemäßen und zielführenden Unterricht ermöglichen, und immer mehr ebensolche Lehrer. Aber sie tun dies nicht, weil sie die finanziellen, personellen und räumlichen Mittel dazu haben, sondern trotz fehlender finanzieller, personeller und räumlicher Mittel! Ist das 2018 nicht ein Armutszeugnis? (Elisabeth Groihofer-Steidl, 3.9.2018)