Manchmal könnte ich meinen Coach würgen. Nicht nur ein bisserl, sondern richtig. Weil es Dinge gibt, die man (oder ich) nicht hören will. Auch wenn sie gar nicht abwertend gemeint sind.

Stellen Sie sich vor, Sie sind drei Tage lang wirklich intensiv unterwegs gewesen. In fremden Landen über Stock und Stein, mit vielen Höhen- und noch mehr Kilometern. 22,7 Kilometer am ersten Tag, 29 am zweiten und nochmal fast 23 am dritten Tag. An den beiden letzten Tagen schrammte die Temperatur an der 30-Grad-Grenze.

Sie haben das Ding aber, im Gegensatz zu etlichen anderen, durchgezogen. Haben wundervolle Landschaften gesehen, erlebt und belaufen, nette Menschen kennengelernt, viel gelacht und sind jetzt, unmittelbar danach und auf dem Weg zum Flughafen, müde, erledigt, absolut leer – aber auch glücklich und stolz. Richtig stolz. Und weil Ihr Coach wissen will, wie es Ihnen ging und geht, schreiben Sie ihm: "Gewinnen wollte ich nicht, genossen habe ich: ein Traum." Sekunden später kommt die Antwort: "Sehr brav. Gutes Grundlagentraining." Manchmal mag ich Harald Fritz echt nicht.

Foto: Thomas Rottenberg

Dabei war es gar nicht böse gemeint: Wer an drei Tagen 75 Kilometer und 1.300 Höhenmeter abspult, tut gut daran, den Großteil davon im Grundlagenbereich zu rennen. Der Moment, in dem man merkt, dass man trotz des vergleichsweise niedrigen Tempos richtig fertig ist, kommt trotzdem. Früher oder später ist das gar nicht so wichtig, weil man eh weiterläuft – schließlich ist man ja deshalb hierhergekommen, nach Schweden, genauer: nach Westschweden. Hier, zwei Autostunden von Göteborg hinauf Richtung Norwegen, liegt Bohuslän. Eine Region, die schwedischer nicht sein könnte. Das wissen und schätzen neben den Schweden vor allem Norweger: Bohuslän ist einer der großen skandinavischen Sommerurlaubs-Hotspots.

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Allerdings endet die Saison hier so wie in Österreich pünktlich Ende August. Aber Wetter und Landschaft sind Details wie "Schulbeginn" egal: In der Nachsaison ist es hier ebenso schön – aber nicht mehr voll. Da kann man nicht nur Landschaft und Blick inhalieren, sondern auch grandios laufen: im Gelände, davon hat Schweden viel, unendlich viel. Und auch wenn das Laufen in heimischen Wäldern und über heimische Berge schön, schöner, am wunderschönsten ist, gestehe ich: ...

Foto: Thomas Rottenberg

... wer einmal durch schwedische Wälder, über schwedische Granitfelsen, entlang schwedischer Küsten und durch schwedisches Heidekraut gerannt ist, wird wiederkommen – sogar wenn er oder sie nicht Gast eines schwedischen Trailschuhherstellers ist, sondern sich den Spaß selbst zahlt: Auch wenn am Sonntag viele der Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Icebug Westcoasttrails schwerstens am Zahnfleisch unterwegs waren, sah ich niemanden, der nicht gelacht, gestrahlt oder gejubelt hätte: Schöner laufen geht nicht, echt nicht.

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Womit wir, eh klar, bei der Compliance-Anmerkung dieser Reise wären. Ich war als Gast der schwedischen Trailschuhschmiede Icebug hier. Das Label mit Sitz in Göteborg hat in der Geländelaufszene Kultstatus. 2001 von Eliza und David Ekelund, Mutter und Sohn, gegründet, machte man sich auf die Suche nach Sohlen, die auf Skandinaviens oft nassen Steinen und Waldwegen, gern auch auf Eis und Schnee, jenen Grip garantieren, der Läuferinnen und Läufer unterwegs dann nicht mehr über dieses Problem nachdenken lässt. Nicht nur sie: Eine Kernzielgruppe sind Menschen, die schon beim normalen Gehen auf ungünstigen Böden leicht ins Rutschen kommen: Ältere und Gebrechliche. Also Menschen, für die Grip nicht bloß den Freizeitspaß maximiert.

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Die ersten Schuhe, zeigt man im Göteburger Headquarter ebenso stolz wie selbstironisch, waren "unglaublich hässlich, haben aber funktioniert". Und auch wenn David Ekelund (seine Mutter ist längst in Pension) hofft, dass das mit dem "hässlich" heute nicht mehr so ist, blieb man Idee und Linie treu: Eine künstlich nachgehübschte Lifestylebildersprache oder gestreamlinte Insta-Promi-Testimonials sucht man vergeblich – auch wenn das Reichweiten und Absätze maximieren würde: Icebug verkauft im Jahr knapp 300.000 Paar Schuhe. Zum Vergleich: Riesen wie Asics oder Nike setzen allein von ihren Spitzenmodellen jährlich zwei bis drei Millionen Paare ab. Pro Modell, versteht sich. Dorthin will Ekelund gar nicht: Er arbeitet lieber mit ein paar anderen kleinen und mittleren Herstellern (etwa ON und Dynafit) an Konzepten, Laufschuhe endlich zumindest halbwegs nachhaltig zu machen.

Und will Menschen mit Events (der Icebug-Experience-Serie) Lust auf "draußen" machen: "Life is better out there", betont Ekelund, sei ein Claim, der ja auch für Trägerinnen und Träger anderer Schuhe gilt.

Foto: Thomas Rottenberg

Kennern der Trailszene verrate ich damit kein Geheimnis. Denn obwohl es den Westcoast Trail erst seit fünf Jahren gibt, ist er weit über die Grenzen Schwedens eine Synonym für so ziemlich alles, was Laufen abseits von Straßen schön macht.

Foto: Thomas Rottenberg

Das ausschließlich an der schier unpackbaren Schönheit der Gegend rund um den kleinen Ort Ramsvik mit seinem Nationalpark und den zahllosen kleinen und kleinsten Inseln, Kanälen und Seen, den pittoresken Orten, den Booten, den Sonnenauf- und -untergängen oder der Weite von Landschaft und Herzen festzumachen wäre zu kurz gefasst. (Ich weiß, ich schwelge gerade in Klischees, aber manchmal treffen sie wie hier halt zu.)

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Auch das Läuferische ist nicht das Ausschlaggebende, das diesen Event so besonders macht: Ja, die drei Etappen sind knackig. Haben alles, was man sich von einem Trail im Norden erwarten kann. Den steten Wechsel zwischen ruhigen, fast meditativen Waldpassagen und steilen, verwinkelten und wurzeldurchzogenen An- und Abstiegen gibt es auch anderswo, auch die langen Züge über Wiesen und Matten, entlang traumhafter, aber gleichzeitig manchmal auch g'fernst-sumpfiger Uferpassagen.

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Und natürlich diese zahllosen, über Jahrtausende von Gletschern zu flachen Kuppen geschliffenen, mit Heidekraut, Blau- oder Himbeersträuchern bewachsenen Granitplatten, von denen man endlos weit übers Land und übers Meer sieht: auf die nächsten und nächsten und nächsten Granithöcker, die im Meer dann Schären sind. Inseln, auf denen einzelne oder mehrere dieser typischen roten Häuschen stehen: ein Boot, eine Angel, ein Ikea-Katalog – pro Einwohner. Das ist Schweden.

Foto: Thomas Rottenberg

Wobei diese Granitdinger sich beim Belaufen dann oft als gar nicht so flachpoliert erweisen: Technischer und anspruchsvoll-unrhythmischer als hier können Strecken kaum sein. Sage nicht ich, sondern Menschen, die als Trail- und Ultraläufer weit mehr Glaubwürdigkeit haben, als ich je sammeln könnte. Etwa Sigrid Huber, Chefredakteurin und Gründerin des Österreichischen Traillauf-Portals und -Magazins "Trailrunning-Szene": Sigrid war ebenfalls als Gast hier. Im Gegensatz zu mir, ich hatte 2016 als Beobachter des großen Ötillö-Swimrun-Hauptevents bei Stockholm das erste Mal schwedisches Trail-Jauchzen erlebt, war sie zum ersten Mal in Schweden. Aber auch sie gab unumwunden zu, sich sofort in Land und Landschaft verliebt zu haben.

Foto: Thomas Rottenberg

Huber läuft tough. Auf Leistung und Performance fokussiert, während ich mich ausschließlich als gemütlichen Genussläufer definiere. Sigrid lief nicht die "Dreierkombi" an Freitag, Samstag und Sonntag, sondern am Samstag den "IX Ultra": 80 Kilometer am Stück. Man gönnt sich ja sonst nix.

Aber genau das ist dann das, was diese Wochenende ausmacht: dass es hier für jeden und jede etwas gibt. Für die ganz harten Knochen (heuer waren es um die 100) eben den Ultra, für mich den Lauf. Für Leute, die sich nicht ganz so sicher sind, ob sie wirklich 75 Kilometer, wenn auch gedrittelt, rennen wollen, die Option, die Challenge als "Hike & Run"-Kombi zu absolvieren. Und für alle, die es nicht eilig haben und die Landschaft, Natur und die phantastischen Blicke entschleunigt genießen wollen, gibt es den Trail in der Hike-Version. Alles gleichzeitig.

Foto: Thomas Rottenberg

Als ich das, Wochen vor dem Event, auf der Veranstalterhomepage las, war ich skeptisch – höflich gesagt. Denn der Modus Operandi sah vor, dass die Wanderer zwei, die Kombinierer eine Stunde vor den Läufern starten würden. Nicht ganz die Hälfte der 600 Teilnehmer des Dreitagesevents sind Läufer, der Großteil der Strecken sind Singeltrails: Ich weiß von Straßenläufen, wie elend es ist, wenn Nordic-Walker in Sechserreihen nebeneinander spazieren und nicht im Traum daran denken, sich für nur eine Sekunde schmal zu machen.

Umgekehrt stelle ich es mir aber auch frustrierend und mühsam vor, ständig von Läufern an den unmöglichsten Stellen überholt zu werden. Nicht einmal von einem Pulk, sondern über Stunden hinweg von einem weit auseinandergezogenen Feld.

Foto: Thomas Rottenberg

Aber ich lag falsch: Niemand, ausnahmslos niemand, den ich überholte, hatte ein Problem damit oder wirkte genervt oder unfreundlich. Ganz im Gegenteil: "Heja! Coming to your left!" – "Heja, where are you from? How do you like it here? Is this your first time in Ramsvik?"

Das Geheimnis ist keines: Beim Westcoast Trail muss man nicht eigens sagen, dass die Leute den Druck rausnehmen sollen – er ist schlicht und einfach nicht da.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich rennt da jede und jeder so schnell und hart und gut er oder sie gerade kann oder es eben geht. Denn wenn 300 Leute auf einer zweispurigen Straße losstarten, sich der Weg aber nach 500 Metern zu einer Hühnerleiter oder einem Waldpfad verjüngt, sollte man entweder wahnsinnig schnell sein oder aber damit leben können, dass es nicht viele echte Überholmöglichkeiten gibt: Wer damit nicht zurechtkommt, ist hier falsch. Nur, auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, ich traf niemanden, der damit ein Problem gehabt hätte.

Foto: Thomas Rottenberg

Natürlich liegt das zum einen in der Natur von Trailläufen: Sowohl ein paar Vorarlberger Triathleten als auch der Duisburger Triathlon-Coach, die ich hier kennenlernte, bestätigten meine subjektive Gechillt-Laufen-Reihung: Auf der einen Seite des Spektrums findet man humorbefreite Volldistanz-Triathleten, am anderen Ende hangloseartige Wald- und Wiesenläufer. Ausnahmen gibt es natürlich überall, zuhauf.

Das hat vielleicht ja auch mit so antiquiert wirkenden Begriffen wie Bergkameradschaft, Demut und Ehrfurcht vor Menschen, Flora und Fauna zu tun: Man ist im Gelände auch füreinander da und verantwortlich. Das beginnt mit Lächeln und Grüßen und reicht über die Selbstverständlichkeit, Hilfe zumindest anzubieten, bis zum Nichteinmal-darüber-Nachdenken, dass das Rennen auch für einen selbst vorbei ist, wenn einem anderen was Gröberes passiert.

Foto: Thomas Rottenberg

Und bei Respekt und Demut geht es, eh klar, auch um Müll: Es gibt hier schlicht und einfach keine Einwegbecher. Die "Littering Zone", also der Bereich, in dem man Müll fallen lassen darf, endet nicht 20 oder 30 Meter nach der Versorgungsstelle, sondern ist exakt ein Mistkübel. Und der steht exakt neben dem Tisch mit den Riegeln, Zimtschnecken und, kein Scherz, Essiggurkerln.

Ich habe in diesen drei Tagen nicht ein einziges Gelpackerl auf dem Weg liegen gesehen. Auch keine Bananenschale oder sonst irgendein Stück Müll.

Das funktioniert. Wenn man will – und wenn man akzeptiert, dass dieser Spielplatz nur dann schön ist und bleibt, wenn man ihn so behandelt, wie er es verdient. Und auch wenn es diesen Mindset auch anderswo gibt: So stimmig und selbstverständlich wie hier habe ich es selten erlebt. Nur am Supersommerwetter kann das nicht gelegen haben.

Foto: Thomas Rottenberg

Die drei Etappen selbst und einzeln zu beschreiben würde den Rahmen hier dann sprengen: Jede war besonders, jede ein Traum, jede ein Fest. Wer mehr Bilder sehen will, der oder die kann ja auf meiner Facebook-Seite stöbern. Auch wenn ich mir am ersten Tag bei einem dieser vermaledeiten Steinhopser die vom Bücherkistenschleppen daheim ohnehin schon beleidigte Leiste endgültig zerrte, mir am zweiten Tag einen Megasonnenbrand holte und am dritten auf den letzten drei Kilometern bei 30 Grad einging wie ein Kaschmirpulli in der Kochwäsche: Ich habe jede Sekunde, jeden Schritt und jeden Augenblick genossen – und werde, wenn es irgendwie geht, wiederkommen. Egal ob eingeladen oder als voll zahlender Gast.

Foto: Thomas Rottenberg

Ein wichtiger Punkt fehlt noch. Denn auch wenn ich sonst kaum je über Sieger oder Siegerinnen schreibe, ist das hier ein bisserl anders. Denn der erste Platz bei den Damen ging nach Österreich – und das, auch das ist für diesen Lauf symptomatisch, ungeplant.

Denn Martina Walch ist vor dem Westcoast Trail noch nie lange Distanzen gelaufen: Die 23-jährige Wienerin war etliche Jahre im österreichischen Orientierungslauf-Nationalteam und studiert seit kurzem in Schweden Sportmarketing. Auf den Trail in Bohuslän stieß sie eher zufällig. Sie wollte ursprünglich mit schwedischen Freunden "nur zum Spaß" mitzumachen, doch die Freunde fielen krankheitsbedingt dann aus. Also sagte die Läuferin aus Thomas Krejcis Run2Gether-Team dann eben, "Ich renn halt einfach mal los": Sie gewann die schwierigste zweite Etappe so souverän, dass ihr Vorsprung dann für den Gesamtsieg elegant reichte.

Foto: Thomas Rottenberg

Ich selbst bin von derlei Platzierungen meilenweit entfernt. Aber gerade bei Veranstaltungen wie dieser ist das vollkommen egal: Klar gibt es hier eine Siegerin und einen Sieger, aber schon die Frage nach der Platzierung in der jeweiligen Altersgruppe bleibt unbeantwortet: Alle, wirklich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben vom Veranstalter als Geburtsjahr 1970 eingetragen bekommen. Sogar jene 83-Jährige Frau, die heuer zum dritten Mal dabei war. Sie wanderte: 75 Kilometer in drei Tagen. Nicht um irgendjemandem etwas zu beweisen, sondern weil es sie glücklich macht. Und deshalb hat Harald Fritz dann eh wie immer recht: Das ist die Grundlage. (Thomas Rottenberg, 5.9.2018)

Mehr Fotos (nach Tagen geordnet) gibt es auf Thomas Rottenbergs Facebookseite


Die drei Läufe gibt es auf Rottenbergs Garmin- und Strava-Seiten:

Erste Etappe: hier und da

Zweite Etappe: hier und da

Dritte Etappe: hier und da

Anmerkung im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise war eine Einladung von Icebug.

Foto: Thomas Rottenberg