Seit geraumer Zeit warnen feministische Zusammenhänge, dass rassistisch aufgeladener und instrumentalisierter Einsatz für Frauen(rechte) nicht nur das mobilisierende Element der extremen Rechten ist, sondern auch die beste und einfachste Anschlussstelle an weite Teile des bürgerlichen Lagers. Diesem Umstand sollte auch in den Analysen rund um die neonazistischen und rassistischen Mobilisierungen in Chemnitz Rechnung getragen werden.

"Die Stadt wieder zurück erobern"

Seit mehreren Wochen ist Chemnitz in Sachsen zum Zentrum rassistischer und neonazistischer Mobilisierungen sowie auch antifaschistischer Gegenproteste geworden, zuletzt bei einem Konzert gegen Rechts unter dem Motto #wirsindmehr. Die Ermordung eines 35-jährigen Mannes am Rande eines Stadtfests wurde zuvor von einem breiten Spektrum unterschiedlicher (extrem) rechter Akteurinnen und Akteure, von der Alternative für Deutschland (AfD) über lokale Ultra-Fußballfangruppen bis hin zu sogenannten Bürgerinitiativen wie "Pro Chemnitz" zum Anlass genommen, sich "ihre Stadt wieder zurück zu erobern". Angriffe auf Geflüchtete, Migrantinnen und Migranten, Nicht-Weiße sowie linke Gegendemonstrierende und Journalistinnen und Journalisten begleiteten die Aufmärsche, die mehrere tausend Menschen auf die Straße brachten. Dabei diente nicht zuletzt die Instrumentalisierung von "Frauenrechten" sowie der Bedrohung von sexualisierter Gewalt durch nicht-deutsche Täter als bedeutender Mobilisierungsfaktor.

Dementsprechend ist es kein Zufall, dass kurz nach der Ermordung von Daniel H. – der nach jetzigem Kenntnisstand sogar AfD-Gegner, Punk-Hörer und Person of Colour war – das Gerücht verbreitet wurde, dem Vorfall sei eine sexuelle Belästigung einer oder dreier nicht genannter Frauen vorausgegangen, das Mordopfer und die beiden anderen Verletzten hätten diese schützen wollen. Dieses Gerücht, das unter anderem die "Bild"-Zeitung mit kolportiert hatte, wollte die Polizei schon am Folgetag nicht bestätigen, es wurde offiziell zwei Tage später dementiert.

Die rechte Demo am 27. August in Chemnitz. Teilnehmer wehen "Defend Europe"-Fahnen.
Foto: APA/AFP/ODD ANDERSEN

Instrumentalisierte Opfer

Mittlerweile geben sogar namhafte Rechtsextreme zu, die Auseinandersetzung habe sich nicht um sexuelle Belästigung gedreht. Doch werden die nicht existenten belästigten Frauen weiterhin zur Mobilisierung der empörten rassistischen Bürgerinnen und Bürger und Neonazis eingesetzt und dienen als Legitimation der Proteste. Zwar handelte es sich in Chemnitz um ein männliches Opfer, es soll dennoch in die bestehenden Narrative eingereiht werden: das derzeit wirkungsvollste ist das von den "wehrlosen weißen deutschen" Frauen, die permanent von eingewanderten muslimischen und/oder afrikanischen Männern belästigt, vergewaltigt, verletzt und ermordet werden würden.

Die Einreihung des Falls in die erwähnten Narrative verdeutlicht sich auch unter dem Hashtag "Einzelfallkette", der in Social-Media-Kanälen dazu benutzt wird, in rassistischer Manier Straftaten von als Migrantinnen und Migranten ausgemachten Personen zu skandalisieren. Auch am  27. August gab es in Chemnitz eine sich als "Kunst" verstehende "Leine des Grauens" mit aufgehängten Ausdrucken von realen und Fake News, die, sofern es sich erkennen lässt,  extrem unterschiedliche Taten mit – sofern bekannt – verschiedensten Täter- und Opferkonstellationen versammelt: von versuchten Vergewaltigungen, sogenannten Ehrenmorden über Gewalt unter Schülern, einem Leichenfund in Österreich (bei dem der mutmaßlich geistig verwirrte Täter weißer Österreicher, das Opfer junge Ungarin war) bis zu einem Artikel über Säureattacken in Indien.

Falschmeldungen

Auf Twitter wurde das Foto der "Leine des Grauens" in Chemnitz durch Katie Hopkins aufgegriffen, einer bekannten britischen Journalistin, die in den letzten Jahren mehrfach durch rassistische Äußerungen und Falschbehauptungen auffiel. Über die Aktion gab Hopkins auf Twitter am 28. August zum Besten: 

Die Einreihung von Daniel H. in das dominante Narrativ geschah dann auch plastisch beim AfD-Pegida-Aufmarsch am 1. September in Chemnitz: Große Plakate mit einzelnen Fotos von ausgewählten Toten, vornehmlich weiblichen, wurden der eigenen Inszenierung als Trauermarsch dienend von Teilnehmenden getragen – so wenig die Toten und ihre Todesumstände miteinander verbindet, so wenig interessieren sich die Teilnehmenden vermutlich für deren Persönlichkeiten und Geschichten.

Mit Hilfe von Mimikama, einem Verein zur Aufklärung über Internetmissbrauch, recherchierte die Journalistin Sarah Thust die Fälle eines weiteren Transparents mit der Aufschrift  "Wir sind bunt bis das Blut spritzt". Dabei stellte sie fest, dass, sofern die einzelnen Opfer überhaupt  identifiziert werden konnten, die Herkunft des Täters (oder Täter) oft unbekannt sind. In einem Fall war es eine Frau, mal ein rassistischer Schotte, mal ein Handtaschenräuber und Ähnliches.

So ist es die extreme Rechte, die Fantasien von Vergewaltigung und anderen Formen von Gewalt gegen Frauen (mit Falschmeldungen) zum Dauerthema macht. Der Grundmechanismus wird dadurch relativ offensichtlich: Gibt es auch nur den fernen Verdacht, dass eine Gewalttat (mit sexueller Komponente) von einem nicht-deutschen Mann begangen wurde oder für den Vorwurf instrumentalisieren lässt, wird sie für Rechte und besorgte Bürgerinnen und Bürger zum Anlass und zur Legitimation rassistischer Hetze. Sexualisierte Gewalt durch weiße deutsche Täter bleibt hingegen gänzlich ausgespart und damit tabuisiert.

Mobilisierung der Männer

In Chemnitz wurden hauptsächlich Männer mobilisiert – diverse rechte Facebook-Seiten zeigen allerdings Filmausschnitte und Fotos vor allem vom 26. August, die beweisen sollen, dass "auch viele Frauen und Kinder" mitdemonstriert haben. Dabei werden Frauen erneut instrumentalisiert, um den Mobilisierungen einen harmloseren Anschein und den Anstrich der weiblichen Selbstermächtigung gegen die Bedrohung zu verleihen. Zahlen über das Geschlechterverhältnis gibt es nicht, auf den Fotos und Videos wird deutlich, dass Männer überwiegen, aber bei weitem nicht unter sich sind.

Rechte Demonstranten halten Porträts von Menschen, die Opfer von Migranten geworden sein sollen.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

Ohne die Größe der Hooligan-Gruppe Kaotic Chemnitz, die zur ersten Demonstration am 26. August, der die Menschenjagden folgten, aufgerufen hatte, überzubewerten, haben sie das Bild der "wehrhaften Männlichkeit" geprägt. Weiße, kampferprobte Männer ziehen in den Bürgerkrieg, holen sich "ihre Straßen" und damit auch "ihre Frauen" zurück. Und Männer – Neonazis – aus ganz Deutschland fühlen sich von dem offen artikulierten Dominanzanspruch direkt angesprochen. Medien und antifaschistische Zusammenhänge kolportieren und stärken dieses Bild, um das Bedrohungspotential der rechten Zusammenrottungen zu verdeutlichen: Dem muskulösen, dicken Nazi möchte man auch nicht alleine und unbewaffnet begegnen.

Die belästigten Frauen in Chemnitz mögen ausgedacht sein, in der rechten Mobilisierung sind sie aber höchst real und der Mobilisierungsfaktor nicht nur für die extreme Rechte. Die Fantasie, Frauen zu schützen, ist zur Fantasie geworden, alle Deutschen zu rächen. Folglich hat jeder einzelne Fall von sexualisierter Gewalt durch als migrantisch ausgemachte Personen das Potential, eine rechte Mobilisierungswelle auszulösen.

Was fehlt, ist die antifaschistische und gesamtgesellschaftliche Einsicht, dass es nicht hilft, nonchalant über die einzelnen Fälle hinwegzugehen. Solange wir nicht ernsthafter über sexualisierte Gewalt, die Beziehungen zwischen Tätern und Betroffenen und vor allem die Bedeutung einer bestimmten hegemonialen Männlichkeitskonstruktion, die diese Taten möglich macht, nachdenken, diskutieren und schreiben, solange haben wir dem rechten Narrativ nichts entgegenzusetzen. Kommentatoren und linke Analytiker übernehmen im Grunde das rechte Narrativ der wehrhaften Männlichkeit auf allen Seiten, ohne darin die Aufrechterhaltung einer Geschlechterordnung, die auf dieser Männlichkeit sowie einer imaginierten schutzbedürftigen Weiblichkeit beruht, zu sehen.

Am 1. September folgte eine erneute Demo rechter und rechtsextremer Gruppen.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

Toxische Männlichkeiten

Jede dieser Taten ist widerlich. Widerlich ist aber auch, dass dieselbe Sorte toxischer Männlichkeit, die sexualisierter Gewalt zugrunde liegt, in Chemnitz, Kandel und anderswo sich selbst als Beschützer wehrloser Frauen feiert. Damit ist eine Männlichkeit gemeint, die von männlich sozialisierten Personen von klein auf gelernt wird und die umfassende Auswirkungen auf die eigene Gefühlswelt ebenso wie auf soziale Beziehungen hat. Sie beinhaltet Härte und Empathielosigkeit gegen sich selbst und andere, den Mangel, auf sich selbst zu achten, die Forderung nach Härte und Furchtlosigkeit und andere als männlich konnotierte Eigenschaften. Toxische Männlichkeit ist keinesfalls ein rechtes Phänomen, sondern betrifft die meisten Männer, die in dieser Gesellschaft aufwachsen.

So sind es dieselben selbstinszenierten "Frauenrechtler", die bei jeder Gelegenheit politischen Gegnern jede Form von sexualisierter Gewalt wünschen und das immer wieder in Bildern, Kommentaren und Plakaten ausführen. Es sind oft auch jene Männer, deren angebliches Mitgefühl für vergewaltigte und ermordete Frauen und deren Angehörigen oftmals dann in Hass, Häme und Gewaltfantasien umschwenken, wenn diese eine Instrumentalisierung erschweren, weil sie Antirassistinnen und Antirassisten waren.

Keine monokausal-rassistische Erklärung

Auch extrem rechte Frauen appellieren an die beschützende Männlichkeit. Dass in den sozialen Medien so oft betont wird, dass auch Frauen in Chemnitz mit demonstriert haben, weist darauf hin, dass ihnen die rechtsextreme Szene selbst mehr Bedeutung einräumt als die Gegenseite. Seit der Silvesternacht in Köln hat es unzählige rechte Mobilisierungen unterschiedlicher Größe gegeben, in denen es um "Frauenrechte", Schutz vor sexuellen Übergriffen und Sicherheit im öffentlichen Raum ging. Sicher immer mit einer hart rassistischen Ausrichtung, dennoch: eine derart konsequente Thematisierung und Mobilisierung um diese Themen hat kein anderes politisches Spektrum in der letzten Zeit gebracht.

In antifaschistischen Analysen herrscht allerdings die Meinung vor, dass die "Frauenthemen" reine Instrumentalisierung seien, oder man kichert darüber, dass hauptsächlich Männer auf die "Frauendemos" gehen. Hinter dem Lächerlichmachen der Präsenz von sexualisierter Gewalt und der Forderung nach Schutz davor innerhalb der extremen Rechten steht ebenso ein Prozess der Verdrängung, wie bei den Rechten selbst. Dazu kommen eigene Unsicherheiten, wie das Thema angegangen werden könnte, wie die Angst von Frauen ernst genommen werden kann, ohne in das Narrativ zu verfallen, der öffentliche Raum sei erst seit 2015 unsicher.

Nach den Ausschreitungen mobilisierten sich Menschen, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren.
Foto: Tim Mönch

Die einzige stichhaltige Argumentation gegen die monokausal-rassistische Erklärung sexualisierter Gewalt und das daraus resultierende Mobilisierungspotential ist der immer wieder zu führende Beweis, dass das Problem nicht die Ethnizität oder die Migrationsgeschichte von Tätern und Betroffenen ist, sondern eine bestimmte Form von Männlichkeit. Ein Identitätsangebot, für das sich Typen aus Tunesien, Afghanistan und Sachsen gemeinsam entscheiden, über alle politischen Grenzen hinweg. Und solange der gesamte Rest der Gesellschaft sexualisierte Gewalt als Resultat dieser Männlichkeit nicht ernst nimmt, werden die faktischen und ausgedachten Betroffenen von ausschließlich als migrantisch gedachter Männergewalt immense mobilisierende Wirkung haben. (Eike Sanders, Anna Berg, Judith Goetz, 6.9.2018)

Eike Sanders ist Mitarbeiterin des Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin apabiz e.V., wo sie zentral zu dem Thema extreme Rechte und Gender forscht, publiziert und Bildungsarbeit durchführt. Ihre Schwerpunkte sind die "Lebensschutz"-Bewegung, Antifeminismus sowie der "Nationalsozialistische Untergrund" (NSU). Sie ist Mitglied im Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus.

Anna Berg ist Mitglied im Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus und arbeitet freiberuflich in der Politischen Bildung. Ihre thematischen Schwerpunkte sind Antifeminismus und Antisemitismus.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschaftlerin und Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit sowie des Forschungsnetzwerks Frauen und Rechtsextremismus. Im Herbst 2017 erschien der von ihr mitherausgebene Sammelband "Untergangster des Abendlandes. Ideologie und Rezeption der rechtsextremem 'Identitären'".

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