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"Das Fensterkreuz, das fliegt auf mich zu", erklärte Philipp seinem Vater die Wahrnehmungsstörungen, mit denen aus heiterem Himmel konfrontiert war.

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Gegenstände schienen für Philipp "zu verrinnen". Die Medikamente brachten kaum Erleichterung. "Er hat so gelitten!", sagt seine Mutter.

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Es sind Straßen, wie Kinder sie zeichnen. Häuser reihen sich hübsch aneinander. Dort ein Strauch, da ein Baum, die Gärten gepflegt, die Autos stehen in kleinen Garagen. Direkt vor dem Haus der Familie Niedersüß in der Rehhofsiedlung zwischen Salzburg und Hallein befindet sich eine Bushaltestelle. Es ist ein friedlicher Ort mitten in grünen Wiesen.

"Wir haben das Haus selbst gebaut", erzählt Geraldine Niedersüß, "wir wollten, dass unsere Kinder im Garten spielen können", erinnert sie sich an eine Zeit in den 1980er-Jahren. Die britische Germanistikstudentin Geraldine hatte bei einem Auslandsaufenthalt in Wien ihren Mann Rudolf aus dem oberösterreichischen Mühlviertel kennengelernt und sich in ihn verliebt. Als sie ihre Ausbildung als Lehrerin in Bristol beendet hatte, zog sie nach Österreich und heiratete. 1980 kam ihr erster Sohn Oliver zur Welt.

Ein normales Leben

Es ist ein ganz normales Leben. Rudolf Niedersüß, ein Betriebswirt, bekommt einen Job in Hallein, 1982 wird Philipp geboren, 1988 Rebecca. Geraldine bleibt bei den Kindern zu Hause, bringt ihnen ihre Muttersprache bei. Das ist mittlerweile 40 Jahre her. Und während damals das Haus, in dem sie heute sitzt, voller Leben war, ist es heute still geworden. Alles ist aufgeräumt, scheint seinen Platz zu haben. Nur eine große Standuhr in der Ecke schlägt jede Stunde und erinnert daran, dass seither Zeit vergangen ist – aber die Erinnerung daran nicht.

Geraldine Niedersüß bringt Tee und Brote, setzt sich kerzengerade aufs Sofa, legt ihre Hände in den Schoß. In akzentfreiem Deutsch taucht sie in die vergangenen drei Jahrzehnte ihres Lebens ein. Ein Leben, das ganz anders verlaufen ist, als sie es sich einmal vorgestellt hatte. Es geht um Philipp, ihren zweitgeborenen Sohn, der mit zwölf Jahren plötzlich Probleme in der Schule bekam. Seine Lehrer waren die Ersten, die aufmerksam wurden. Bis zur zweiten Klasse Gymnasium war er ein Vorzugsschüler gewesen, eine Sportskanone. Kurz vor Weihnachten machte er im Unterricht nicht mehr mit. Die Familie konsultierte den Hausarzt und hörte erleichtert, dass Philipp "pumperlgesund" sei. Trotzdem kam er in der Früh nicht mehr aus dem Bett. Eine Psychologin aus Hallein sollte helfen, meinte, es handle sich um eine "pubertäre Ausnahmeerscheinung". Er durfte zwei Wochen zu Hause bleiben. Daraus wurden drei Monate, in denen er stundenlang mit dem Skateboard die Straße der Rehhofsiedlung rauf und runter fuhr. Pubertät, ein schwieriges Alter, es wird vorübergehen, das dachten die Eltern.

Extreme Stimmungsschwankungen

Und es wurde tatsächlich auch wieder besser – aber dann wieder schlechter. Schließlich nicht nur in der Schule, sondern auch zu Hause. Philipp war immer "unser Kasperl", erzählt Geraldine und lächelt. Doch seine fröhliche Seite zeigte er immer seltener. Stattdessen wurde ihr Sohn von abrupten Stimmungsschwankungen beherrscht. "Es war so, als ob sich ein Vorhang über unseren Philipp herabsenken würde", erzählt sie und erinnert sich, wie er dann in sein Zimmer ging, wo sie ihn in der Ecke kauernd am Boden fanden. Seine Mutter, die heute – im Nachhinein – weiß, was mit ihrem Sohn damals los war, versetzt sich noch einmal in diese Jahre der Unsicherheit. Erinnert sich an die Arztbesuche, die Gespräche, das Wort Depression und ihre Überforderung mit all den medizinischen Fachbegriffen. Als Philipps Zustand nicht und nicht besser wurde, entschloss man sich, ihn auf der Kinderpsychiatrie in Salzburg durchchecken zu lassen. "Aber in den Ferien", das war Philipp selbst wichtig.

Er bekam Medikamente, die ihn apathisch machten. "Die Ärzte sagten, es sei unsere Aufgabe, ihn aus der Horizontalen zu bringen", erinnert sich die Mutter und spricht von fünf Jahren tagtäglichem Kampf, ihn für die Schule fertig zu machen: aufwecken, ihn zum Aufstehen bringen, anziehen, frühstücken. Häufig hat ihn sein Bruder Oliver dann zur Bushaltestelle geschleift. Wie geht eine Familie mit einer solchen belastenden Situation um? Geraldine Niedersüß: "Wir haben uns an die Situation gewöhnt und weiter jeden Tag gehofft, es würde bald besser werden."

Hoffnung aus Prinzip

Die Psychiater in der Christian-Doppler-Klinik in Salzburg seien keine besonders große Hilfe gewesen, sagen Geraldine und Rudolf in der Rückschau. Es gab nettere und weniger nette, aber ausgeliefert war man ihren Worten immer. Fünf Jahre Hoffnung, dass eine pubertäre Ausnahmeerscheinung vorbeigeht: So hat die Familie ihren Alltag bewältigt.

Niemand sprach in den ersten Jahren über die Möglichkeit, dass Philipp an Schizophrenie leiden könnte. Stattdessen stellten sie seiner Mutter immer die gleichen Fragen: Wie war die Schwangerschaft? Wie war die Geburt? Gab es traumatische Erlebnisse? Missbrauch? "Wir haben uns ja selbst ständig den Kopf zerbrochen", sagt Geraldine, als ihr Mann aus seinem Arbeitszimmer ins Wohnzimmer kommt. Ein gebeugter Mann, der große Ruhe ausstrahlt und seine Frau, deren Haare im Gegensatz zu seinen weiß geworden sind, liebevoll ansieht. Die beiden sind zwischen Mitte und Ende sechzig, man sieht ihnen aber nicht an, welch schweres Schicksal sie hinter sich haben, weil sie es schaffen, Haltung zu bewahren, und "vor dem Schrecklichen keine Angst mehr haben", wie sie das formulieren.

Die Schuldfrage war furchtbar. Sie erinnern sich an nervenaufreibende Ursachensuche. Eine Ärztin meinte, der Tod von Geraldines Mutter und ihre Trauerphase wären Auslöser für Philipps Probleme, ein anderer Psychiater machte die zweisprachige Erziehung der Kinder verantwortlich.

Diagnose und Therapie

Dass die endgültige Diagnose Schizophrenie lautete, sollte die Familie erst fünf Jahre nach dem Ausbruch von Philipps Krankheit erfahren. "Wenn wir damals schon gewusst hätten, was wir heute wissen", sagt Rudolf Niedersüß mit leiser Stimme. Schizophrenie ist eine Erkrankung des Gehirns, die genauen Ursachen sind bis heute nicht bekannt. Die Ärzte ließen die Familie Niedersüß darüber im Ungewissen. Vielleicht, um ihnen die Hoffnung nicht zu nehmen. "Das ist vollkommen falsch", sagt Philipps Vater, der sich seit 15 Jahren in einer Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von psychisch Kranken engagiert und mittlerweile viele anderen Familien begleitet hat. Er ist davon überzeugt, dass man als Patient und Angehöriger den Tatsachen ins Auge schauen muss; dass es darum geht, die Krankheit zu akzeptieren, um sich auf die guten und schlechten Phasen einstellen zu können. "Das hilft wahnsinnig", sagt er. Er weiß aus eigener Erfahrung: Es dauert, bis man akzeptiert, dass es zumeist eine unheilbare Erkrankung ist.

So auch bei Philipp. Er verbrachte in seiner Gymnasialzeit immer wieder Wochen auf der Psychiatrie, bekam Medikamente, die ihm nicht halfen, die er aber trotzdem einnahm. Er war ein braver Patient, wusste, dass irgendetwas mit seinen Gedanken nicht stimmte. Immer wieder sprach er über das "Wirrwarr in seinem Kopf", daran erinnert sich seine Mutter. Umso stolzer ist sie bis heute, dass er einen Hochbegabtenkurs absolvierte und später im Jahr 2000 die Matura schaffte.

Eine aussichtslose Katastrophe

Diese wirren Gedankenschübe konnten zu jedem Zeitpunkt über ihn hereinbrechen. "Er wollte sie weghaben", sagt seine Mutter und nimmt einen Schluck Tee. Er hoffte sogar auf die Wirkung einer Elektroschocktherapie, die ihm ein Psychiater an der Klinik vorgeschlagen hatte, weil er dachte, der Strom würde seinem Gehirn helfen. Die Enttäuschung, als es nicht besser wurde, war riesig.

Aber immer noch wechselten gute und schlechte Phasen einander ab. Die Zeit nach der Matura etwa war so eine gute Phase, nach der Philipp und sein Bruder Oliver im Jahr 2000 zum Studium nach England übersiedelten. Philipp hatte sich für Wirtschaft an der Universität Leicester entschieden – und lebte sich langsam ein. "Doch dann begann das mit seinen Fixierungen", erinnert sich die Mutter. Er konnte plötzlich das Wort "macroeconomics" in Vorlesungen nicht mehr ertragen, hörte es aber jeden Tag immer wieder. Philipp sattelte auf "politics" um.

Doch einen Monat später – Geraldine Niedersüß weiß noch genau, dass es der 26. Oktober 2000 war – rief er verzweifelt zu Hause an. Er werde sich vom höchsten Turm in Leicester stürzen, wenn er nicht nach Hause dürfe, bettelte er ins Telefon. Noch heute klingt in Geraldines Stimme Panik. Sie organisiert innerhalb einer Stunde Flugtickets, fleht ihre Schwester in England an, nach Leicester zu Philipp zu fahren. Als sie dies ihrem Sohn mitteilen will, kann sie es nicht fassen, dass er nur eine Stunde später übermütig und ausgelassen erzählt, dass er mit Unikollegen den österreichischen Nationalfeiertag feiere.

Fremdbestimmt durch Stimmen

Als sie ihn schließlich in München vom Flughafen abholt und über die dunkle Autobahn mit ihm nach Hause fährt, redet er wirres Zeug. Dass er ein böser Mensch sei, sich mit schlimmen Sachen beschäftige, dass Wirtschaft nur Schlechtes über die Welt bringe. Als Geraldine einwirft, dass man mit Geld auch Gutes bewirken könne, sagt Philipp: "Jetzt sagt mir eine Stimme, dass das, was du sagst, nicht richtig ist." Bis zu diesem Moment hatte Philipp noch nie von Stimmen gesprochen. Geraldine wusste, dass dies ein Zeichen für Schizophrenie mit Realitätsverlust ist, ein Zeichen für eine Psychose, ein Symptom, das Psychiater immer wieder erwähnt hatten, das sie aber in seiner Bedeutung nicht verstand. Noch nicht. Denn das Wort Schizophrenie als Philipps Diagnose hat Rudolf Niedersüß nur zufällig nach Jahren der Erkrankung in dessen Akte gelesen.

Die Zeit nach Philipps Rückkehr verschwimmt in der Erinnerung seiner Eltern. Er wechselte zwischen geschlossener Psychiatrie und seinem Zimmer in der Rehhofsiedlung. Er bekam schwere Medikamente, wurde lethargisch, nahm stark zu. "Siehst du das Fensterkreuz, das fliegt auf mich zu", erklärte er seinem Vater die Wahrnehmungsstörungen, die ihn quälten. Manche Gegenstände schienen für Philipp "zu verrinnen".

Die Medikamente brachten ihm im Gegensatz zu anderen Patienten kaum Erleichterung. "Er hat so gelitten!", sagt seine Mutter. Er konnte oft tagelang nicht schlafen. Durch die Medikamente begann sein Gedächtnis schlechter zu werden: "Mama, ich kann kein Mädchen mehr kennenlernen, weil ich sofort ihren Namen wieder vergessen würde", sagte Philip eines Tages vollkommen verzweifelt – und zog sich mehr und mehr vor der Welt zurück. Er saß viel an seinem Computer und beschäftigte sich schlussendlich mit Kryonik, also mit der Technologie, seine Organe einfrieren zu lassen, um sie in einer fernen Zukunft wiederbeleben zu können. Solche Ideen beherrschten seine Gedanken Tag und Nacht. Nichts konnte ihn mehr zur Ruhe bringen, auch nicht sein Vater.

Alltag in Exremsituationen

Nach drei Jahren dann die ersten Suizidversuche: Die beiden Eltern erinnern sich genau an alle schmerzlichen Details dieser Versuche und reden heute sehr offen darüber. Sie bemerken aber beide auch, dass viele heute mit dem Tod nicht umgehen wollen – oder können. Was macht also eine Familie, deren Sohn das Leben einfach nicht mehr aushalten kann? Die Familie Niedersüß machte weiter: Geraldine als Lehrerin, ihr Mann ging morgens ins Büro. Abends wurde gekocht, der Haushalt erledigt. Der Alltag gab Struktur – und Halt. Wenn Philipp in der Klinik war, besuchten ihn seine Eltern. Und dann war das Schreckliche scheinbar wieder vorüber. Philipp wollte arbeiten.

Man fand ein Sozialprojekt, damit er für ein paar Stunden beschäftigt wäre, eine Tagesstruktur hätte, das würde ihm guttun. Nach der Anmeldung in Hallein erfuhr Philipp, dass er auf Platz 177 einer Warteliste gelandet war, ein Jahr später war er auf Platz 71 gerückt. Für jemanden in seinem labilen Zustand eine aussichtslose Katastrophe. Das Schlimmste war, sagen die Eltern, dass Philipp selbst bemerkte, wie er zunehmend seinen Verstand verlor.

Als er nach der Lektüre des Buches Maybe your drug is your problem seine Medikamente absetzen wollte, weil sie ihm nicht halfen, stimmten die Eltern zu. Er würde unter ärztlicher Aufsicht im Laufe eines Jahres sehr langsam den Ausstieg vollziehen. Weil die Schulmedizin nicht half, suchte die Familie Niedersüß auch andere Wege, etwa die Hilfe von Schamanen. Über die Jahre wurde ein Vermögen für einige solcher Alternativen ausgegeben: "Du machst alles, um dein Kind zu retten, egal was", sagt Geraldine.

Das Schrecklich passiert

Als sie eines Tages im Februar 2005 von ihrer Arbeit nach Hause kam und Philipp nicht zu Hause war, dachte sie sich zunächst nichts – bis sie in seinem Zimmer einen Zettel fand, mit dem er bewusst Abschied nahm.

"Jeder in der Familie hat anders getrauert", erzählt Geraldine sehr gefasst über eine Zeit der unfassbaren Verzweiflung. "Mir war wichtig, meinen Alltag zu bewältigen", sagt sie und ist froh, dass sie die Kraft dafür hatte. Ihr Mann beschloss, seine Arbeit in der Selbsthilfegruppe für Angehörige psychisch Kranker weiterzumachen. Er nahm seine Frau mit. "Da haben wir gemerkt, wie viel Erfahrung wir gesammelt hatten und wie wertvoll sie für andere Betroffene sein kann."

Und als ob der Tod eines Sohnes noch nicht genug gewesen wäre, starb 13 Jahre später auch Philipps Bruder Oliver. Auch er war kurz nach Philipp aus England zurückgekehrt, hatte sein Studium abgebrochen und jobbte. Irgendwann wurde klar, sagt Geraldine, dass er zu viel Alkohol trinkt. Philipp sagte immer: "Oliver hat das Gleiche wie ich, dem helfen aber ein paar Bier." Geraldine fällt es nicht leicht, über Olivers Suchterkrankung, die Entzugsversuche und Rückfälle zu erzählen. "Er war uns intellektuell haushoch überlegen", erinnert sich sein Vater, zeigt die Hefte, in denen Oliver seine Gedanken niedergeschrieben hat. Es sind wertvolle Erinnerungsstücke. "Aber es war ein Unfall, kein Suizid," betonen beide Eltern, eine unbeabsichtigte Überdosis.

Es ist ganz still im Haus in der Rehhofsiedlung. Über einer Kommode hängen die Fotos einer Familie, die es so nicht mehr gibt: "Lieben heißt loslassen können", steht auf der Parte von Olivers Begräbnis. Auf dem Zettel, den Geraldine im Februar 2005 im Kinderzimmer ihres Sohnes Philipp fand, stand: "Ich halte diese retrograde Amnesie nicht mehr aus, bin in die Salzach gegangen."

Mit dem Tod leben

Früher, sagt Geraldine, sei sie schüchtern und zurückhaltend gewesen. Der Tod ihrer Kinder habe sie verändert. Heute spricht sie über ihr Schicksal, teilt ihre Geschichte mit, "damit psychische Erkrankungen den Nimbus eines selbstverursachten Makels verlieren". Ihre Tochter Rebecca wird im nächsten Jahr heiraten.

Wenn Rudolf Niedersüß im Rahmen von Aufklärungsaktionen in Schulklassen über Schizophrenie erzählt, ist es mucksmäuschenstill in der Klasse, und viele haben im Familien- oder Bekanntenkreis jemanden, auf den das zutrifft. Das Leben für psychisch Kranke lebenswerter machen, das ist zu Rudolfs Lebensaufgabe geworden. Vieles auf der Psychiatrie habe sich verbessert, sagt er. Die Selbsthilfe hat ein Netz zwischen Patienten, Angehörigen und Ärzten gespannt und unterstützt so betroffene Familien. Aber es gibt noch immer viel zu tun: "Es darf nicht sein, dass das Leben unserer Buben sinnlos war", sagen beide. Dann schlägt die Uhr wieder laut und deutlich in die Stille ihres Wohnzimmers. (Karin Pollack, 9.9.2018)