Die Ursachen für Krebserkrankungen zu finden ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

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Ist es irgendwann möglich, aus dem genetischen Profil eines Krebspatienten eine perfekt passende Therapie abzuleiten? Das ist zumindest das Fernziel von Big Data in der Onkologie. Damit soll herausgefunden werden, worin sich Krebsarten ähneln oder unterscheiden, welche molekularen Tricks Tumorzellen nutzen und welche Veränderungen bei welcher Krebsart auftreten.

Big Data beschreibt die Gewinnung, Integration und Analyse riesiger Datenmengen aus verschiedenen Quellen – von Studien zu Genen, Proteinen und Stoffwechselprodukten in Tumorzellen und gesunden Referenzzellen sowie von klinischen Untersuchungen. "Es ist nötig, das Krebsgenom eines Patienten, gewonnen aus Tumorgewebe, mit dem einer normalen Zelle zu vergleichen. So lassen sich die genetischen Veränderungen im Krebs von den vererbten Veränderungen des Patienten unterscheiden", sagt der Bioinformatiker Roland Eils, ehemals langjährig am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und heute Professor für Digitale Gesundheit am Berlin Institute of Health (BIH).

Die dabei anfallenden Datenmengen sind riesig. "Allein in meinem Lab am DKFZ fielen in den letzten Jahren täglich elf Terabyte Daten an. Zum Vergleich: Das tägliche Datenaufkommen bei Twitter liegt täglich bei zwölf Terabyte."

Wegbereiter Sequenzierung

Um das genetische Profil einer Tumorzelle zu erfassen, wird mittels Sequenzierung deren DNA gelesen. Vier Buchstaben – GATC – spielen in unserem Erbgut eine wesentliche Rolle. Sie stehen für die Basen Guanin, Adenosin, Thymin und Cytosin und können ganz unterschiedlich angeordnet sein. Mit den Basenpaaren seiner DNA und mit ihrer Abfolge codiert das menschliche Genom unter anderem alle Proteine in den Zellen. Bei der Genomsequenzierung wird nun genau diese Abfolge der Basen auf ausgeklügelte Weise ermittelt und in eine Buchstabenfolge überführt.

Wie wichtig es ist, die Bedeutung diverser Gene zu kennen, wird an den seit rund 20 Jahren identifizierten Risikogenen – BRCA1 und BRCA2 – für familiären Brustkrebs deutlich. "Liegt eine der beiden Genveränderungen vor, ist das Brustkrebsrisiko um das Zehnfache erhöht. Frauen mit einem veränderten BRCA-Gen erkranken zudem häufiger an Eierstockkrebs", sagt der Brustkrebsexperte Christian Singer, Leiter des Zentrums für familiären Brust- und Eierstockkrebs am AKH Wien. Die Risikogene zu kennen bedeute für die Betroffenen eine Chance, den Krebs zu verhindern. Schauspielerin Angelina Jolie etwa ist Trägerin dieser Gene und ließ sich vor einigen Jahren prophylaktisch Brüste und Eierstöcke entfernen.

Günstig und schnell

War Genomsequenzierung anfangs noch zeitaufwendig und teuer, ist es inzwischen möglich, die Daten kostengünstig in ein bis zwei Tagen zu verarbeiten. Wesentlichen Anteil daran hat eine Weiterentwicklung der Genomsequenzierung, das Next Generation Sequencing (NGS). Es basiert auf der Idee, Millionen DNA-Fragmente nicht nacheinander, sondern gleichzeitig zu sequenzieren. So ist es möglich, das Erbgut oder jene Abschnitte, die die Bauanleitung für ein Protein darstellen und in denen fast alle krankheitsverursachenden Mutationen zu finden sind, komplett zu analysieren.

Schnelligkeit allein reicht aber nicht. NGS liefert laut Singer auch viele unwichtige Daten, sie gilt es richtig einzuordnen. "Bei Big Data werden mitunter Mutationen gefunden, die das Brustkrebsrisiko nur um den Faktor 1,1 erhöhen, also minimal. Es gibt Frauen, die das so beunruhigt, dass sie eine Brustamputation in Erwägung ziehen", so der Brustkrebsexperte. Das sei medizinisch aber keinesfalls gerechtfertigt. Mehr Daten sind nicht gleichbedeutend mit mehr Wissen oder genaueren Aussagen.

Von der wissenschaftlich fundierten Betrachtung und intelligenten Auswertung der Daten hängt die Zuverlässigkeit von Diagnosen und Therapien ab. "Der Umgang mit Big Data ist noch ein Problem", so Singer. "Wir sind derzeit noch Zauberlehrlinge." Das sieht auch Eils so: "Bislang gibt es keine Standards für Krebsgenomdaten, weder in der Forschung noch in der Klinik, weshalb nicht garantiert ist, dass die wirklich krankheitsrelevanten Daten extrahiert werden." Eine schrittweise Entwicklung zur Standardisierung der Bioinformatikverfahren sei nötig.

Vorteile für Patienten

Es gilt, in den Datenmengen therapeutisch nutzbare Mechanismen, die das Tumorwachstum verursachen oder begünstigen, zu entdecken. "NGS versetzt uns in die Lage, molekulare Charakteristiken von Tumoren in Breite und Tiefe sowie die molekularen Treiber einer Krebserkrankung aufzudecken. Für einzelne Tumorarten können wir molekulare Profile erstellen und eine Tumorart in Untergruppen einteilen", sagt Eils.

Durch die Genomsequenzierung des Tumorgewebes gibt es ein detaillierteres Profil der Gene und vorliegender Mutationen. Ein Beispiel: Patienten mit einem Melanom haben oftmals eine krebsverursachende Mutation im BRAF-Gen. Es gibt mittlerweile sogenannte BRAF-Inhibitoren, die das mutierte Gen blockieren. Australische Forscher haben Hinweise gefunden, dass eine bestimmte seltene Untergruppe von Eierstockkrebs ebenfalls durch ein mutiertes BRAF-Gen bedingt ist. Handelt es sich um dieselbe Mutation, könnte ein BRAF-Inhibitor in diesem seltenen Fall helfen.

Klinischer Alltag

Das Ziel ist, eine für jeden Krebspatienten individuelle Therapie zu finden. "Wir fangen gerade an zu verstehen, wie die Antwort der Tumorzellen auf eine Therapie durch die Mikroumgebung beeinflusst wird", sagt Eils. "Wenn wir dieses Know-how haben, können wir genauer vorhersagen, wie ein Patient behandelt werden sollte und wie er auf die Behandlung ansprechen wird."

"Technisch wäre das bereits machbar, aber wer finanziert das?", gibt Eils zu bedenken. Die Kosten für Genomsequenzierung selbst seien tragbar. "Aber die Kosten für neue, zielgerichtete Therapien sind oftmals höher als für herkömmliche Chemotherapien." Auch das Thema Datenschutz ist ein weiterer Problempunkt. Und dennoch sind die beiden Experten sich einig: "Die Entwicklung der genombasierten Diagnostik ist alternativlos." (Gerlinde Felix, 8.9.2018)