Die Krise ist vorbei, die Umbauarbeiten in der EU sind es noch lange nicht. Aktuell streiten Finanzminister und Regierungschefs über eine Reform der Eurozone und die Besteuerung von Digitalkonzernen wie Google und Facebook. An den Deutschen kommt in diesen Debatten niemand vorbei.

STANDARD: Deutschland hat sich mit Frankreich auch auf Leitlinien für eine Reform der Eurozone verständigt. Allerdings sind viele Details noch offen. Sind Sie damit zufrieden, oder ist das zu wenig, um irgendjemanden zu begeistern?

Scholz: Die Finanzkrise von 2008 hat uns gezeigt, wie eng wir in der EU und in der Eurozone miteinander verflochten sind. Entwicklungen in einzelnen Mitgliedsländern können jeden von uns direkt betreffen. Daraus haben wir viele Konsequenzen gezogen – wir sind jetzt besser gewappnet für künftige Krisen.

STANDARD: Reicht das?

Scholz: Wir brauchen weitere Schritte. Gemeinsam mit meinem Amtskollegen Bruno Le Maire habe ich im Juni konkrete Vorschläge gemacht, um die Wirtschafts- und Währungsunion noch widerstandsfähiger zu machen. Wir vertiefen die Bankenunion, und der ESM (Eurorettungsschirm, Anm.) soll zu einer Art europäischem Währungsfonds weiterentwickelt werden, der mal mit, mal ohne den IWF helfen kann. Gleichzeitig wollen wir mit einem Eurozonenbudget die finanziellen Handlungsmöglichkeiten in Europa ausbauen, mit Blick auf den mehrjährigen Finanzplan der EU für die Jahre 2021 bis 2027. Wir müssen den gemeinsamen Währungsraum auch in konjunkturell schwierigeren Phasen stabilisieren, beispielsweise durch meine Idee einer Arbeitslosenrückversicherung für die Eurozone.

STANDARD: Warum ist das wichtig?

Scholz: Die Idee ist, die nationalen Systeme der Arbeitslosenversicherungen zu ergänzen um eine Rückversicherung für die gesamte Eurozone, die dann in der Lage ist, in einer Krisensituation die Stabilität eines nationalen Sicherungssystems zu erhöhen. In den USA existiert ein solches System seit Jahren. Die einzelnen Staaten zahlen dort gewisse Summen in einen Topf ein – und erhalten im Krisenfalle daraus einen Kredit, damit sie nicht in der Krise die Beiträge erhöhen oder die Leistungen einschränken müssen. Nach der Krise werden die Kredite zurückgezahlt. In einem Europa der Freizügigkeit, in dem sich Arbeitnehmer ohne größere bürokratische Hürden einen Arbeitsplatz überall suchen können, ist dies ein kluger und notwendiger Schritt. Aber es geht eben nicht um Transfers, sondern um Absicherung.

STANDARD: Die EU steckt in einer Vertrauenskrise, nationalistische Bewegungen haben Auftrieb. Sind Maßnahmen wie eine engere Verzahnung der Arbeitslosenversicherung nicht viel zu unambitioniert, um Vertrauen zurückzugewinnen?

Scholz: In der EU haben wir sehr lange vor allem über den Binnenmarkt diskutiert. So haben wir eine große Freihandelszone geschaffen. Das ist gut, die EU muss aber politischer werden und über Außenpolitik, über unsere gemeinsame Außengrenze, über Wirtschaftspolitik sprechen und über Migration.

Die Sozialdemokraten könnten wieder zulegen, wenn sie mehr auf das Thema Außenpolitik, aber auch auf eine gemeinsame Sicherheits- und Rüstungspolitik sowie Migration setzen, sagt Scholz.
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STANDARD: Was heißt das konkret?

Scholz: Wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik, wir müssen weg vom Einstimmigkeitsprinzip im Außenministerrat. Wir brauchen eine gemeinsame Sicherheitspolitik, wir müssen dafür sorgen, dass unsere Verteidigungswirtschaft zusammenwächst. Wir haben in Europa viel mehr verschiedene Waffengattungen als die Vereinigten Staaten von Amerika, das ist irgendwann nicht mehr bezahlbar. Alle EU-Staaten geben viel Geld aus für Verteidigung. Wir müssen aber effizienter werden, damit wir unsere Streitkräfte besser ausstatten können. Es kann nicht sein, dass wir fast 180 Waffensysteme haben, während die USA mit 30 auskommen. Ich bin dafür, über eine einheitliche Rüstungsbeschaffung in Europa zu diskutieren. Entscheidend sind unsere Außengrenzen, über Flucht und Migration müssen wir uns Gedanken machen. Es geht um die Souveränität Europas, um unsere Art zu leben, und deshalb werden wir gemeinsame Antworten finden müssen. In einer Welt großer Mächte, in der bald zehn Milliarden Menschen leben, werden wir nur als vereintes Europa gehört werden.

STANDARD: Warum glauben Sie, mit diesen Themen als SPD-Politiker Erfolg haben zu können? Sie sprechen Sicherheit und Außenpolitik an. Sind es nicht Dinge wie prekäre Beschäftigung, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und die Kluft zwischen Nord- und Südeuropa, die den Menschen unter den Nägeln brennen? Müsste eine moderne SPD nicht darüber reden?

Scholz: Wir müssen uns um diese Themen kümmern. Die Frage der Konvergenz in Europa spielt eine sehr große Rolle, genauso die Frage des sozialen Zusammenhaltes – selbst in Ländern, die sehr erfolgreich sind, wie Deutschland und Österreich. Willy Brandt, Helmut Schmidt und Bruno Kreisky waren große Außenpolitiker. Das ist ein Kennzeichen sozialdemokratischer Politik.

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Zahlen Techgiganten zu niedrige Steuern? Darüber tobt in der EU eine Debatte.
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STANDARD: Multinationale Unternehmen sollen verpflichtet werden offenzulegen, in welchem Land sie wie viel Steuern zahlen. Die Idee gilt unter Steuerexperten als effektiv, weil damit öffentlicher Druck gegen Unternehmen erzeugt werden kann, die in Steueroasen ausweichen. Ihr Vorgänger Wolfgang Schäuble war gegen eine Veröffentlichung der Steuerberichte. Es galt als fix, dass mit Ihnen als Sozialdemokrat im Ministerium alles anders wird. Jetzt sprechen Sie sich plötzlich auch gegen ein öffentliches Country-by-Country-Reporting aus. Warum?

Scholz: Wir arbeiten daran, dass dieses Country-by-Country-Reporting in der EU und weltweit funktioniert. Gerade haben wir mit den USA und drei weiteren Staaten Vereinbarungen abgeschlossen, damit wir die entsprechenden Informationen von dort bekommen.

STANDARD: Aber was ist mit der Veröffentlichung dieser Berichte? Aktuell tauschen die Steuerbehörden die Informationen nur untereinander aus. Die Infos bleiben geheim.

Scholz: Eine Veröffentlichung war zunächst nicht vorgesehen, nun gibt es diese Forderung. Bei unseren nächsten Schritten müssen wir sicherstellen, dass Nicht-EU-Staaten sich einer Zusammenarbeit nicht verweigern, weil sie ihre Unternehmen vor einer öffentlichen Nennung schützen wollen. Das wäre ein Rückschritt.

STANDARD: Warum geht die EU nicht voran und sagt: Wir wollen wissen, welches Unternehmen, etwa Google, wo Steuern zahlt? Ist das prinzipiell eine gute Idee?

Scholz: Ich glaube, dass wir jetzt auf einem guten Weg sind. Das Country-by-Country-Reporting ist ein zentrales Instrument der OECD gegen die Versuche multinationaler Konzerne, durch gewiefte Standortverlagerungen Steuerzahlungen zu vermeiden oder die eigene Steuerlast zu drücken. Damit das Instrument seine Wirkung entfalten kann, ist es wichtig, dass sich möglichst viele Staaten an dem Austausch von Steuerdaten beteiligen.

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Kommt in Schweden der nächste Rechtsruck? Jimmie Åkesson, Chef der rechtsnationalen Schwedendemokraten, könnte bei den Parlamentswahlen einen Triumph feiern.
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STANDARD: Große Technologieunternehmen wie Google und Facebook sollten nicht "dämonisiert" werden, heißt es in einem internen Papier aus dem Finanzministerium, aus dem die "Bild"-Zeitung diese Woche zitiert hat. Die IT-Giganten würden gar nicht so wenig Steuern bezahlen, wie das öffentlich immer behauptet wird. Ist das auch Ihr Standpunkt?

Scholz: Unser Ziel ist es, sicherzustellen, dass die großen und erfolgreichen Unternehmen der digitalen Ökonomie einen fairen Beitrag zur Finanzierung unseres Gemeinwesens leisten – genauso wie die Firmen der Realwirtschaft. Die besondere Besteuerung digitaler Unternehmen ist nicht trivial. Da gibt es eine ganze Reihe von verschiedenen öffentlich diskutierten Modellen und Vorschlägen, die mit unterschiedlichen Herausforderungen verbunden sind. Die Debatte läuft – daran arbeiten wir jetzt im Kreise der Finanzminister Europas und bei G7 und G20.

STANDARD: Verspüren Sie da als Sozialdemokrat keinen Druck? Es gibt keinen SPD-Parteitag, bei dem nicht erwähnt wird, dass die Krankenschwester brav ihre Steuern zahlt, während die Facebooks dieser Welt sich drücken können.

Scholz: Ich möchte ein faires Steuersystem. Und es ist nicht fair, wenn jene, die am meisten verdienen, nichts beitragen zur Finanzierung öffentlicher Güter. Das sehen die meisten Bürgerinnen und Bürger genauso. Hier müssen wir überlegen, wie wir mit effizienten Regeln alle steuerehrlichen Unternehmen schützen und für fairen Wettbewerb sorgen. Das kann gelingen im Rahmen einer internationalen Verständigung.

STANDARD: Was ist so schwer daran?

Scholz: Wir müssen verhindern, dass große Digitalunternehmen sich durch die Verlagerung von Gewinnen und durch Steueroptimierung der Steuerpflicht entziehen.

STANDARD: Schäuble war die schwarze Null im Haushalt sehr wichtig, Sie führen diesen Kurs fort und wurden schon der "rote Schäuble" genannt. Ist das eine Auszeichnung für Sie?

Scholz: Mein Haushaltsentwurf sieht massive Investitionen in die Zukunft und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts vor, beispielsweise in den sozialen Wohnungsbau und in den Ausbau der Infrastruktur. Und wir haben uns vorgenommen, die Situation der Rentner zu verbessern, gerade jener am unteren Ende der Einkommensskala. Gleichzeitig ist mir wichtig, in wirtschaftlich guten Zeiten keine zusätzlichen Schulden zu machen. Deutschlands gesamtstaatliche Schuldenquote fällt nächstes Jahr erstmals seit 17 Jahren wieder unter die Maastricht-Schwelle von 60 Prozent des BIP, was sehr gut ist. Das ist die Voraussetzung, um in schlechteren Zeiten handlungsfähig zu bleiben – für mich definiert sich so kluge sozialdemokratische Finanzpolitik.

STANDARD: Bei den Wählern sieht es aber nicht so aus, als würden Sie mit dieser Politik der kleinen, pragmatischen Schritte erfolgreich sein.

Scholz: Wir müssen vor allem gut arbeiten. Wir sind die älteste demokratische Partei Deutschlands und verbinden Weltoffenheit, praktische Vernunft und Regierungskompetenz mit unserem Einsatz fürs Soziale. Wir glauben, dass wir demokratisch etwas in diesem Sinne verbessern können. Wenn wir das alles bei den kommenden Wahlen beherzigen, dann haben wir wieder die Chance, stärkste Partei zu werden.

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Plakat der AfD. Sie legt in Umfragen in Deutschland zu, während die SPD schwächelt.
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STANDARD: Die SPD liegt in Umfragen unter 20 Prozent, in Schweden droht den Sozialdemokraten am Sonntag bei der Wahl eine herbe Niederlage. Warum sind die Sozialdemokraten so unattraktiv geworden?

Scholz: Die sozialdemokratischen Parteien Europas sind im Zuge der Industrialisierung entstanden. Gegenwärtig erleben wir, dass ausgerechnet in den wirtschaftlich erfolgreichsten Nationen – den klassischen Industrieländern – die schlechte Laune zunimmt, während anderswo die Zuversicht größer wird. In Deutschland sind sich viele nicht mehr sicher, ob – auch wenn es ihnen gerade gut geht – es auch noch für ihre Kinder und Enkel reichen wird. Wir brauchen aber die Zuversicht, dass das Leben besser werden kann, damit unsere Gesellschaft zusammenhält. Wenn das nicht gelingt, wird uns so etwas wie Trump in den USA oder der Brexit im Vereinigten Königreich oder die verschiedenen Rechtspopulisten-Parteien noch länger umtreiben. Und deswegen müssen wir auch Sicherheit gewähren. Ein stabiles Rentenniveau ist eine solche Garantie. Wohnen muss bezahlbar bleiben, die Gebühren für Kinderbetreuung müssen wir abschaffen. Man muss sein Leben mit einem normalen Einkommen gut bewältigen können.

STANDARD: Warum beerdigt man nicht eigentlich die Finanztransaktionssteuer? Die Idee gibt es seit 2011, aber die Steuer kommt ja doch nicht.

Scholz: Gemeinsam mit Frankreich setzen wir einen neuen Impuls, um den Verhandlungen neuen Schwung zu verleihen. Es macht Sinn, etwas mit Blick auf die französische Transaktionssteuer zu entwickeln, was in ganz Europa funktionieren könnte – und es macht Sinn, wenn wir das im Zusammenhang mit der Finanzierung des Eurozonenbudgets hinbekommen.

STANDARD: Der ursprüngliche Vorschlag für eine Finanztransaktionssteuer war sehr umfassend, sollte alle Finanzprodukte von Aktien bis Derivaten umfassen. Der französische Vorschlag zielt nur auf Besteuerung bei Aktien ab. Ist das nicht eine Mini-Variante?

Scholz: Der französische Vorschlag wäre ein echter Fortschritt für Europa. (András Szigetvari, Birgit Baumann, 9.9.2018)