Manfred Weber, Fraktionschef der Christdemokraten (EVP) im EU-Parlament, will als Spitzenkandidat bei der EU-Wahl antreten und Jean-Claude Juncker als Kommissionschef beerben. Die EU sei aufgrund der globalen Herausforderungen in einer entscheidenden Phase, es gehe um die Sicherung ihres Wohlstandsmodells, sagt Weber im STANDARD-Interview. Nur indem es gelinge, die großen Fragen gemeinsam zu lösen, pragmatisch und konkret Mehrheiten zu bilden, werde man Erfolg haben.

STANDARD: Sie haben Ihre Kandidatur als Spitzenkandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten diese Woche damit begründet, dass es so wie jetzt in Europa nicht mehr weitergehen könne. Was läuft schief?

Weber: Die Menschen empfinden Europa zu sehr als eine bürokratische Ebene, eine der Eliten. Ich möchte, dass die Bürger zu Beteiligten werden. Wir müssen diesen Weg gehen. Bei den Europawahlen wird über die zentralen Fragen für diesen Kontinent entschieden. Ich will mithelfen, das gemeinsame Europa den Menschen zurückgeben.

STANDARD: Das sagen vor Wahlen alle Politiker, aber was heißt das konkret?

Weber: Für die Frage, wie man zwischen den Bürgern und den Regierenden in Europa eine Brücke baut, haben wir eine zentrale Idee entwickelt: den Parlamentarismus. Ich will den Bürgern zum Beispiel die Frage vorlegen, ob die Türkei Mitglied der EU werden soll oder nicht. Wenn sie die EVP und mich wählen, werden wir uns dafür einsetzen, dass die Beitrittsgespräche beendet und in Partnerschaftsgespräche überführt werden. Wenn es dafür eine Mehrheit im Parlament gibt, muss die Kommission darauf reagieren.

STANDARD: Soll es auch mehr direktdemokratische Abstimmungen geben?

Weber: Es muss klar sein, dass die Meinungsäußerung, die beim Wahlakt zustande kommt, dass die sich auch im Regierungshandeln, im Handeln der Kommission widerspiegelt. Das müssen wir hinkriegen.

STANDARD: Werden die großen politischen Probleme zu viel zerredet statt gelöst?

Weber: Diesen Eindruck kann ich nachvollziehen. Wir brauchen in den Debatten gefühlt viel zu lange, bis die Staaten sich einigen, weil Kompromisse auch mühsam sind. Aber ich will im Wahlkampf positiv wirken, zum Beispiel deutlich machen, dass wir die letzte große Krise um den Euro gemeistert haben. Der Euro ist stabil, alle Eurostaaten haben unter drei Prozent Neuverschuldung, zehn Millionen Arbeitsplätze werden geschaffen, wir haben zwei Prozent Wachstum, es läuft also gut. Die Botschaft ist, wenn Europa zusammenfindet und zusammensteht, dann sind wir erfolgreich.

Manfred Weber will im Wahlkampf "deutlich machen, dass wir die letzte große Krise um den Euro gemeistert haben".
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STANDARD: Wird das gemeinsame Europa Ihrem Eindruck nach zu negativ dargestellt?

Weber: Die Populisten können die Probleme immer nur beschreiben, wir Christdemokraten hingegen stehen für Lösungen der Probleme. Das ist die Trennlinie, die ich da sehen würde. Das bedeutet, wir müssen die Parteienfamilie sein, die die Ideen für morgen hat, im Gegensatz zu all denen, die nur Angst machen. Ich will Lust darauf machen, Europa mitzugestalten.

STANDARD: Sie stammen aus einem 1.300-Einwohner-Dorf in Niederbayern, wo Sie heute noch leben. Wie wird man da zum Europapolitiker, der Kommissionspräsident werden will?

Weber: Ich liebe dieses Europa. Die Idee dahinter ist genial. Wenn ich unterwegs bin wie jetzt in Wien und diese Stadt sehe – wie in so vielen anderen oder in ländlichen Regionen –, dann liebe ich diese Vielfalt. Europa steht für so viel Schönes, Gutes und Werte. Darum werden wir in der Welt beneidet. Es geht darum, dass wir unseren european way of life erhalten. Dazu will ich meinen Beitrag leisten, und ich traue mir die Führung zu.

STANDARD: Was sagen dazu Ihre Mitbürger am Stammtisch zu Hause in Wildenberg?

Weber: In meinem örtlichen Umfeld ist das den meisten klar. Es gibt viel Sorge wegen der Streite, der Spaltungen, ob das in Europa auch funktionieren kann. Für mich ist diese direkte Rückbindung ins Dorf, wenn ich am Sonntag in die Kirche gehe, bei Gesprächen, sehr wichtig. Auch daraus leite ich ab, was wir als Politiker tun müssen.

STANDARD: Ihre Stammpartei CSU reitet oft gegen die EU aus, sie gelten als liberaler Paradeeuropäer. Wie kam das?

Weber: Das ist meine Grundlage, seit ich Politik mache. Ich war schon in den 1990er-Jahren überzeugt, dass die wesentlichen Leitentscheidungen für uns in Straßburg und Brüssel fallen. Ich wollte dort mitreden, wo Zukunftsfragen entschieden werden. Ich habe mich 2004 sehr bewusst für den Wechsel ins Europäische Parlament entschieden.

STANDARD: Sie wollen Nachfolger von Jean-Claude Juncker werden. Was können Sie besser als er?

Weber: Ich kann nur für mich reden. Als Vertreter einer jüngeren Generation ist für mich Europa nicht nur eine Frage der großen Themen, sondern auch des Stils. Das heißt für mich zuhören, für die Menschen da sein vor Ort, aber dann auch führen.

STANDARD: Wie wollen Sie die Kommission führen, wenn Sie Präsident werden? Als eine Art Regierung?

Weber: Ich will heute keine Strukturdebatten führen, sondern dann das umsetzen, was wir im Wahlkampf versprochen haben. Das ist die Aufgabe gemeinsam mit dem Europäischen Parlament.

STANDARD: Das heißt, Sie würden nach der Wahl mit den Fraktionen im Parlament ein Regierungsprogramm erarbeiten?

Weber: Wir würden das tun, was auf allen nationalen Ebenen bei Wahlen üblich ist. Parteien werden gewählt, und die setzen sich dann zusammen, um einen Kompromiss zu finden.

STANDARD: Das Nominierungsrecht haben die Staats- und Regierungschefs. Wie wollen Sie die überzeugen?

Weber: Das halte ich, ehrlich gesagt, für eine Elitendiskussion, und das will ich nicht. Ich will, dass am Parteitag der Europäischen Volkspartei entschieden wird, wer unser Spitzenkandidat wird. Jeder kann antreten. Nach den Europawahlen soll das Parlament entscheiden, wer Kommissionspräsident wird. Die Person, die das Vertrauen der Wähler und dann des Parlaments bekommt, die muss das machen – natürlich im Miteinander mit dem Rat. Ich darf darauf hinweisen, dass dieses demokratische Vorgehen auf nationaler Ebene nirgendwo zur Debatte steht. Die Partei, die die Wahlen gewinnt, stellt den Regierungsanspruch. Das sollte auch in Europa gelten.

"Nach den Europawahlen soll das Parlament entscheiden, wer Kommissionspräsident wird", sagt Manfred Weber.
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STANDARD: Wollen Sie die Kommission verkleinern, die Zahl der Kommissare reduzieren? Das könnten die Regierungschefs einstimmig beschließen.

Weber: Ich will eine effiziente Kommission, die sich auf die wesentlichen Aufgaben konzentriert. Strukturen oder technische Abläufe sind für mich jetzt noch kein Thema.

STANDARD: Sie sind 46 Jahre alt, Kanzler Kurz 32. Findet in der EVP gerade ein Generationenwechsel statt? Ein griechischer EVP-Abgeordneter hat hier gesagt, von der neuen Führung könnten alle seine Kinder sein.

Weber: Ich glaube, dass wir in Europa einen historischen Moment erleben. Wir sind von außen herausgefordert, von China, Russland, teils durch Präsident Trump – und im Inneren von den Radikalen. Deswegen ja, wir müssen ein neues Kapitel für Europa aufschlagen. Und das heißt auch, es wird neue Gesichter geben, die für das nächste Jahrzehnt stehen. Erfahrene Kräfte wie Angela Merkel oder Jean-Claude Juncker und junge, wie Kurz oder ich, wir gehen da miteinander.

STANDARD: Was ist anders an der jungen Generation? Weniger EU-Idealismus?

Weber: Ich bin in dieser Europäischen Union aufgewachsen, ich habe nie etwas anderes erlebt. Daher kann ich auch nicht die Debatte verstehen, ob die EU gut oder schlecht ist. Die Frage ist, ob und wie ich sie mitgestalte. Meine Generation hat daher ein sehr pragmatisches Umgehen mit der Union. Wir sind nicht getrieben von der Kriegserfahrung. Wir wollen vor allem, dass es funktioniert, wir wollen Ergebnisse. Wir sind geprägt von dem, was man heute die neuen Herausforderungen nennt, den Wandel durch Digitalisierung und Globalisierung, wo wir sehen, dass es die Souveränität auf nationaler Ebene nicht mehr so einfach gibt.

STANDARD: Dass Nationalstaaten die Probleme nicht mehr lösen können?

Weber: Genau. In bestimmten Bereichen ist das so. Wir müssen das Erbe positiv übernehmen, aber mit dem Wissen, dass es darum geht, es in die Zukunft zu führen. So erlebe ich das. Das ist pragmatisch, sehr konkret, hemdsärmelig, wenn Sie wollen.

STANDARD: Was die öffentliche Debatte über Europa im Moment prägt, sind aber die Rechtspopulisten, die EU-Skeptiker. Bezüglich der EVP haben viele den Eindruck, es gebe Abgrenzungsprobleme, Stichwort Viktor Orbán. Wie ist Ihre Position?

Weber: Ich denke, alle Volksparteien haben im Moment Probleme mit dem Populismus, wir, die Sozialdemokraten und auch die Liberalen, wenn man sich die Landschaft in Europa anschaut. Entscheidend ist, dass wir als Führungskräfte eine klare Botschaft geben: Bei den Grundrechten und Werten gibt es keine Verhandlungsmasse. Da ist die rote Linie. Darüber hinaus darf über vieles debattiert werden.

STANDARD: Die ungarische Regierung von Orbán verletzt diese Grundrechte aber. Sie liefern sich mit den Rechtspopulisten um Le Pen, Salvini und die FPÖ in Straßburg harte Wortgefechte, aber Fidesz ist nach wie vor in Ihrer Fraktion. Wo ziehen Sie die Grenze?

Weber: Die Abgrenzung von Extremismus und Populismus ist nicht einfach. Aber bei den Grundrechten lässt sich das definieren. Beispiel Orbán: Die Kommission hat in zwei Punkten Vertragsverletzungsverfahren vorgelegt, und das wurde von uns unterstützt. Es geht konkret um die NGO-Gesetzgebung und die Universitäten.

STANDARD: Nächste Woche gibt es im Parlament eine Abstimmung über das Artikel-7-Verfahren zum Entzug der Stimmrechte im Rat.

Weber: Die Werte, die auch in der Grundrechtecharta verankert sind, dürfen nicht zur Debatte stehen. Wir müssen auf EU-Ebene auch einmal über neue Mechanismen reden, um das zu garantieren.

STANDARD: Kratzt Orbán also an den Grundrechten?

Weber: Viktor Orbán und sein Verhalten werden von vielen in der EVP kritisiert. Wir werden das nächste Woche diskutieren. Es gibt Fragen, wo es keine Manövriermasse gibt. Es gibt für Orbán keinen Rabatt, keine Sonderbehandlung, nur weil er Mitglied der EVP ist. Wir haben bisher immer alle kritischen Debatten mitgetragen, früher bei Justizkommissarin Viviane Reding, jetzt bei Frans Timmermans.

STANDARD: Was erwarten Sie, was müsste Orbán tun, um ein Verfahren noch zu verhindern?

Weber: Er muss Kompromissfähigkeit zeigen. Wenn es uns gelingt, bei diesen beiden Punkten, die auf dem Tisch liegen und die die Kommission bereits für rechtlich problematisch erklärt hat, wenn er dazu Kompromissbereitschaft zeigt und aufzeigt, wie er es lösen will, dann sind wir gesprächsbereit. Darauf warten wir. Er kommt ja ins Parlament, er stellt sich der Debatte. Wir werden ihm unsere Position auf den Tisch legen und dann entscheiden, wie wir abstimmen.

STANDARD: Glauben Sie, dass er einen neuen Vorschlag macht?

Weber: Wir sind im Dialog, er muss entscheiden, was er macht. Ich will dem nicht vorgreifen.

Für Ungarns Premier Viktor Orbán gebe es "keinen Rabatt, keine Sonderbehandlung, nur weil er Mitglied der EVP ist", sagt Manfred Weber.
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STANDARD: Zurück zu den EU-Wahlen. Sehen Sie die als Richtungsentscheidung gegen die EU-Skeptiker?

Weber: Es ist auf jeden Fall eine Schicksalswahl, die darüber entscheidet, ob wir als Europäer in der Lage sind, Europa zu demokratisieren und zusammenzuhalten. Es muss gelingen, die Menschen zu überzeugen, dass sie das nicht als nebensächliche Wahl empfinden oder zum Abstrafen für nationale Politik.

STANDARD: Was werden neben Demokratie und Grundrechten Ihre wichtigsten Themen sein?

Weber: Wir müssen vor allem darauf hören, was die Menschen umtreibt. Es gibt etwa eine ganz große, tiefliegende Sorge der Menschen, was mit ihnen im Zuge der Digitalisierung und Globalisierung geschieht. Etwa die Sorge, was mit den Jobs passiert. Deswegen ist für uns wichtig, über Fairness zu reden, über ein neues Modell einer gerechten und sozialen Gesellschaft in einer neuen Zeit. Es könnten in den nächsten Jahrzehnten Millionen von Jobs infrage gestellt werden.

STANDARD: Ein Beispiel?

Weber: Wenn das autonome Fahren kommt, werden viele Jobs, von Lastwagenfahrern etwa, zur Debatte stehen. Wir müssen Antworten geben, damit die Betroffenen sich nicht ausgeschlossen fühlen. Das geht bis hin zu völlig neuen Modellen in der Arbeitswelt.

STANDARD: Die Probleme sind ja seit langem bekannt, aber warum sollen sie plötzlich rascher gelöst werden können, Stichwort: Migration?

Weber: Wir müssen noch ambitionierter an das Brückenbauen gehen. Wir sind viel zu stark im Gegeneinander verhaftet, beschuldigen uns gegenseitig und suchen zu wenig den Kompromiss. Darum müssen wir kämpfen. Konkret bei der Migration heißt das, wir müssen die Außengrenzen absichern und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Umsiedelung von Flüchtlingen aus Kriegsgebieten zeitlich begrenzt und kontingentiert funktioniert. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass die Bürger mitgehen würden, wenn wir beides schaffen.

STANDARD: Bisher bringt niemand die Kraft dafür auf. Beim Türkei-Pakt 2016 hat man in kurzer Zeit zweimal drei Milliarden Euro aufgebracht. Warum gelingt das in gleicher Weise nicht, um die Migrationsprobleme im Inneren der EU anzugehen?

Weber: Es wäre ein guter Weg, wenn wir die Solidarität in der Migrationsfrage über den Haushalt organisieren. Bei der Schaffung von 10.000 Frontex-Beamten zum Grenzschutz ist das gelungen, Griechen, Italiener und Spanier dürfen nicht das Gefühl haben, dass sie alleingelassen werden. Wir müssen viel konkreter werden. Das gilt auch für das Umsiedlungsprogramm, die Geschundenen dieser Welt, etwa aus dem Syrien-Krieg, die um Leib und Leben fürchten müssen, denen müssen wir in Europa oder mit unserer Hilfe außerhalb Europas einen Platz anbieten.

STANDARD: Erwarten Sie vor Jahresende konkrete Ergebnisse?

Weber: Ich vertraue auf Sebastian Kurz. Wir müssen in den Punkten, wo man schon Einigkeit gefunden hat, jetzt auch Ergebnisse liefern. Das ist in der österreichischen Ratspräsidentschaft eines der großen Themen auf der Tagesordnung.

STANDARD: Wie soll man einen französischen Präsidenten Macron und einen italienischen Innenminister Salvini auf einen gemeinsamen Weg bringen?

Weber: Wie es in der Politik immer ist, mit Kompromissen. Wir leben in einer Zeit, wo es wieder sehr ums Grundsätzliche geht, wo wir klar zeigen müssen, wofür wir stehen. Entweder gelingt es uns gemeinsam, das europäische Lebensmodell abzusichern, oder wir werden alle scheitern. Das muss jedem klar sein. (Thomas Mayer, 7.9.2018)