Musikalischer Forschergeist und eine Karriere, die er lakonisch als "zweiten Bildungsweg" bezeichnet: Stefan Gottfried.

Foto: Robert Newald

Erste Momentaufnahme: vor 40 Jahren. Schulbeginn, das war für den sechsjährigen Stefan auch Musikschulbeginn, im zehnten Bezirk lernte er Klavier. Aus eigener Initiative begann der Bub Melodien zu harmonisieren, zu verändern, zu improvisieren: ein ideales Herantasten an seine spätere Arbeitstätigkeit am Cembalo. Als Sohn eines Hobbyhornisten lernte er bald auch Horn, spielte in Amateurorchestern mit und wurde vom pianistischen Einzelplayer temporär zum Kollektivmusiker.

Zweite Momentaufnahme: vor 30 Jahren. Der nach eigener Beschreibung "brave, zurückhaltende" Teenager Stefan Gottfried kaufte sich CDs. Aber nicht von Michael Jackson oder Madonna, sondern vom Concentus Musicus: die Bach-Kantaten. Sein Urteil über die Aufnahme: "Wahnsinn!" Die literarischen Landschaften durchstreifte er nach Karl-May- und Agatha-Christie-Expeditionen vermehrt als "Sachbuchtiger": Nikolaus Harnoncourts Musik als Klangrede und Der musikalische Dialog wurden verschlungen. Der Forschergeist in Bezug auf die musikalische Vergangenheit erwachte.

Entflammt von der Concentus-Aufnahme von Bachs h-Moll-Messe verfasste Gottfried einen Brief an das Orchester, worauf Alice Harnoncourt antwortete und ihn zu Proben einlud. Das lebendige Musizieren, die geistreichen Kommentare Harnoncourts und seine Überzeugungskraft fesselten ihn. Gottfried beschreibt Nikolaus Harnoncourt als Menschen, dessen Autorität auf umfangreichem Detailwissen fußte.

Konzentration statt Rührung

Nach dem Studium an der Wiener Musikhochschule und der Schola Cantorum Basiliensis begleitete er als Harnoncourts Assistent viele Opernproduktionen – bei der Styriarte, bei den Salzburger Festspielen und in Wien. Als Harnoncourts Kräfte versiegten und Gottfried 2016 dessen Dirigat des Fidelio-Festkonzerts im Theater an der Wien übernahm, war der Rat des Mentors: "Versuch nicht, etwas nachzumachen!" Auf Wunsch Harnoncourts übernahm er zusammen mit den zwei Konzertmeistern Erich Höbarth und Andrea Bischof die Leitung des Concentus Musicus. Im April 2016 dirigierte er im Großen Musikvereinssaal das Gedenkkonzert für den Pionier der Alten Musik. Eine emotionale Extremsituation? "Man hat als Dirigent viel zu tun, muss hochkonzentriert und kontrolliert sein", erklärt Gottfried. Da sei für Rührung in diesem Moment gar nicht so viel Platz.

Die meisten Dirigenten haben die Position im Mittelpunkt des Geschehens aktiv angestrebt. Täuscht der Eindruck, dass ihm die berufliche Erweiterung vom Cembalisten zum Orchesterleiter eher zufällig passiert ist? "Zweiter Bildungsweg", fasst es Gottfried lakonisch zusammen. Er sei in diese Funktion auf eine natürliche Weise hineingewachsen. Von diesen Karrierewegen gäbe es in der Alten Musik aber eh viele, erinnert er, Harnoncourt selbst sei ja auch einen ähnlichen gegangen.

Residenzdirigent

Gottfried sammelte Erfahrung als Konzertdirigent auch abseits des Concentus: Er dirigierte die Wiener Symphoniker, das RSO Wien. Das Theater an der Wien wurde für Gottfried zu einer Art Operndirigierschule: 2015 und 2017 war er für Opernproduktionen an der Kammeroper musikalisch verantwortlich, für diese Saison wurde er zum ersten "Residenzdirigenten" der Intendanz Roland Geyers ernannt. Gottfried leitet mit Händels Alcina und Purcells King Arthur gleich zwei Neuproduktionen an der Wienzeile.

Im Dirigentenzimmer des Hauses weist Gottfried auf den malerischen Naschmarkt-Blick hin. Hier habe vor gut 200 Jahren vielleicht Beethoven gestanden, erinnert er an die reiche Geschichte des Hauses. Das Nächste, was der Musiker fest im Blick hat, ist die Premiere von Alcina: Kommenden Samstag wird Tatjana Gürbacas Inszenierung von Händels Oper über Ver- und Entzauberungen aller Art Premiere haben. (Stefan Ender, 11.9.2018)