Birgit Schreiber (53) ist Journalistin, promovierte Sozialforscherin, Schreibtrainerin und Buchautorin (Schreiben zur Selbsthilfe, Springer 2017). Sie unterrichtet an Universitäten, in Workshops (etwa im Wiener Writers' Studio) und setzt Schreiben im Unternehmens-Coaching ein.

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Durch das Aufschreiben werden Sorgen besser verstanden und können in die Lebensgeschichte eingebettet werden.

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STANDARD: Warum ist Schreiben eine gute Therapie?

Birgit Schreiber: Es ist ein tiefes Bedürfnis der Menschen, im Leben einen Sinn und eine Bedeutung zu finden. Schreiben kann dabei helfen. Auch wenn man mit Freunden über ein Problem spricht, will man eine Klärung herbeiführen. Schreiben ist wie eine Freundin oder ein Freund, der immer da ist. Dabei ist man in einem geschützten Raum mit sich selbst. Noch dazu sind Stift und Papier immer zur Hand. Schreiben ist eine heilsame Droge und schnell verfügbar.

STANDARD: Wie wirkt Schreiben?

Schreiber: Memoir-Writing und Journal-Writing sind zwei Schreibbewegungen aus den USA, die bei uns noch nicht so bekannt sind. Beide Methoden können erwiesenermaßen dabei helfen, sich psychisch und physisch zu entlasten. Nicht umsonst heißt es: "Sich etwas von der Seele schreiben." Wer ein Problem aufschreibt, fühlt sich entlastet. Wer seine Lebensgeschichte aufschreibt, erkennt vielleicht plötzlich einen roten Faden. Und viele würdigen zum ersten Mal, dass sie schon große Hürden geschafft haben. Das stärkt für die Zukunft.

STANDARD: Gibt es Belege?

Schreiber: Was das Schreiben bringt, ist wissenschaftlich gut erforscht. Die ersten Studien hat James W. Pennebaker in den 1980er-Jahren durchgeführt. Sie haben gezeigt, dass das selbstöffnende Schreiben eine positive Wirkung auf das Immun- und das Herz-Kreislauf-System hat. Schreiben mindert Stress und kann auch bei schweren Erkrankungen zu Linderung führen. Diese Effekte lassen sich körperlich messen. Die Theorie dahinter ist, dass wir, wenn wir Gefühle nicht mehr zurückhalten müssen, mehr Energie für das restliche Leben haben.

STANDARD: Worauf ist beim Schreiben zu achten?

Schreiber: Es geht darum, dass auch Gefühle und Empfindungen aufgeschrieben werden, nicht nur Fakten. Und es ist wichtig, zu einer neuen Perspektive zu kommen.

STANDARD: Inwiefern?

Schreiber: Wer etwas aufschreibt, stellt sich ein Publikum vor, für das er schreibt. Das kann man selbst sein oder jemand anderes. Dadurch verändern sich die Wahrnehmung des Problems – sie wird vielschichtiger. Es kann auch helfen, in der dritten Person zu schreiben, etwa eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht. Die Sorgen werden dadurch besser verstanden, Lösungen für Probleme tauchen auf und Erfahrungen können in den Erfahrungsschatz eingebettet werden. Das hilft auch dabei, aus schlimmen Erlebnissen etwas Gutes zu ziehen. Eine gute Anleitung ist dafür wichtig.

STANDARD: Apropos: Wie legt man am besten los?

Schreiber: Es gibt einige Einstiegstechniken. Die meisten merken schnell, dass sie viel zu sagen, also zu schreiben haben. Es kann beispielsweise helfen, nach einem vorgegebenen Satzanfang drauf loszuschreiben, etwa: "Was mich gerade beschäftigt, ist ..."

STANDARD: Welche Techniken gibt es noch?

Schreiber: Das Listenschreiben ist eine Technik, die viele Menschen ja auch aus ihrem Alltag kennen. Sie schreiben Einkaufs-, To-do- und Reiselisten. Die Teilnehmer in meinen Kursen bitte ich dann aufzuschreiben, was sie im Alltag normalerweise tun. Und dann sollen sie aufschreiben, was sie gern tun würden, wenn sie könnten – je zehn Punkte. Dann heißt es: Listen vergleichen. Vielen fallen dabei Defizite auf. Die nächste Aufgabe ist, drei Minuten lang aufzuschreiben: Wie bekomme ich in den nächsten Wochen einen Punkt von der zweiten auf die erste Liste.

STANDARD: Nicht jeder ist schreiberisch begabt.

Schreiber: Viele Menschen haben die Sorge, nicht gut genug schreiben zu können. Meine tiefe Überzeugung ist, dass jeder, der reden, auch schreiben kann. In den Kursen merken die Menschen dann schnell, dass es nichts anderes ist, als die Worte, die man denkt, auf Papier zu bringen.

STANDARD: Kann Schreiben auch schaden?

Schreiber: Menschen, die gerade erst ein Trauma erlebt haben oder auch Menschen mit starken Depressionen sollten kein Freewriting machen, also nicht einfach darauf losschreiben. Denn dann könnte es passieren, dass sie sich noch tiefer in ihre Erlebnisse, Schmerzen oder Traumata hineinschreiben. Hier ist es wichtig, kürzere und strukturiertere Schreibanweisungen zu geben. Berater und Therapeuten sollten sich daher immer darüber im Klaren sein, wie eine Anleitung zum Schreiben wirken kann.

STANDARD: Kann Schreiben auch einen stressigen Alltag entlasten? Wie gelingt das?

Schreiber: Ja, das praktiziere ich selbst gerade. Jeden Abend stelle ich mir folgende drei Fragen und beantworte sie schriftlich. Die erste Frage ist: Wofür bin ich dankbar? Das tröstet, auch wenn der Tag anstrengend war. Die zweite Frage ist: Was ist mir gelungen? Das motiviert, denn wenn man genau hinschaut, gibt es an jedem Tag etwas, was man geschafft hat – und wenn es nur ein perfekt gekochtes Frühstücksei war. Die dritte Frage ist: Wie würde mein Tag morgen wunderbar werden? Mein Fokus ist schon auf das Gelingen gerichtet und macht es wahrscheinlicher, dass der Tag tatsächlich gut läuft. Das Ganze dauert nicht länger als drei bis vier Minuten. Und es hilft außerdem dabei, besser einzuschlafen. (Bernadette Redl, 16.9.2018)