Es waren die Geschichten des Onkels aus Afrika, die Bilder und Souvenirs, die Aoife Ni Mhurchu von dem Kontinent träumen ließen. Bereits als Kind war der heute 42-Jährigen aus der irischen Stadt Cork klar, dass sie weniger Privilegierten helfen will. "Jedes Jahr zu Weihnachten legte meine Mutter ein Spielzeugset für Krankenschwestern oder Ärzte unter den Baum", erzählt Ni Mhurchu, während sie auf dem Oberdeck des Rettungsschiffs Aquarius im Hafen von Marseille sitzt. Doch das sechste von zehn Kindern wollte keine Ärztin werden, immer Krankenschwester.

Aoife Ni Mhurchu wollte schon als Kind Krankenschwester werden. Nach ihrer Ausbildung war die 42-jährige an zahlreichen Krisenherden im Einsatz: Ruanda, Philippinen, Afghanistan und zuletzt auf dem Rettungsschiff Aquarius im Mittelmeer.
Foto: DER STANDARD/Bianca Blei

Ni Mhurchu reiste nach ihrem Schulabschluss fünf Jahre durch die Welt, absolvierte die Krankenschwesternschule in ihrer Heimat und begann anschließend den Weg zu beschreiten, den sie sich in ihrer Kindheit bereits ausgemalt hatte: 2003 und gut neun Jahre nach dem Genozid versorgte sie Patienten in einem kleinen Spital in Ruanda. "Man konnte die Spannungen noch immer spüren", erinnert sich Ni Mhurchu. Sie war konfrontiert mit den Erinnerungen der Überlebenden, die vergewaltigt worden waren, gesehen hatten, wie ihre Eltern erschossen wurden, oder Zeugen ethnischer Säuberungen geworden waren. "Als ich nach meinem Einsatz in Kenia zurück war, spürte ich eine regelrechte körperliche Erleichterung", sagt sie. Ihr sei bewusst gewesen, dass es für die Bevölkerung ein langer Weg zur Heilung werden würde. Einer Heilung, deren Zeugin sie zehn Jahre später werden sollte, als sie abermals für einen Einsatz im Land war.

Nicht so viele Sorgen machen

Ni Mhurchu vermittelt den Eindruck einer Frau, die bereits viel gesehen hat. Auf dem wettergegerbten Gesicht zeichnen sich jedoch ebenso Lachfalten ab. Die Haare zu einem praktischen Zopf gebunden und den trainierten Körper in einer lässigen Latzhose verpackt, wirkt sie wie jemand, mit dem man so gut wie jeden Ort der Welt bereisen könnte. Ob sie während ihrer Einsätze jemals Angst um ihr Leben gehabt habe? "Nein", antwortet Ni Mhurchu schnell. Man dürfe sich nicht so viele Sorgen machen, was passieren könnte. "Ich konzentriere mich lieber darauf, wie ich die Situation von Menschen verbessern kann", sagt die Krankenschwester.

So auch während ihres Einsatzes für Kinder in Weißrussland, die nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl litten, oder im Jahr 2013, als sie während des Supertaifuns Haiyan auf den Philippinen stationiert war. Mehr als 6.300 Menschen starben, weite Teile des Inselstaats wurden verwüstet. Ihre Hilfsorganisation habe die einzige Intensivstation im Katastrophengebiet gehabt, erzählt Ni Mhurchu. Deshalb fragte auch Ärzte ohne Grenzen (MSF) an, ob es seine Intensivpatienten schicken könne. Der erste Kontakt mit der Organisation, für die sie nun im Einsatz ist. "Ich dachte immer, dass man Französisch sprechen muss, um für MSF zu arbeiten", sagt sie. Doch das war nicht der Fall, und so bewarb sich Ni Mhurchu nach ihrer Rückkehr um eine Stelle.

Geschichten über verrückte Hühner

2015 war sie in einem Krankenhaus im Hochland Papua-Neuguineas stationiert. In dem Dorf existierte wenig Infrastruktur. Das Wenige, das vorhanden war, sammelte sich rund um eine Flugzeuglandebahn: das Spital, die Polizeistation, das Warenhaus eines chinesischen Händlers und kleinere Geschäfte. Ni Mhurchu beschreibt die Natur: Wolken, die am Morgen das auf 2.500 Meter gelegene Dorf komplett einhüllen und schließlich am Nachmittag den Blick auf die umliegende Berglandschaft freigeben. Oder wie sie in der Tür des Krankenhauses vor einer Menschentraube von Einheimischen saß und Geschichten aus Irland erzählte. Geschichten über das Wetter auf der Insel oder über die verrückten Hühner ihrer Mutter, die im Apfelbaum leben. Im Gegenzug erfuhr sie viel über die Kultur des Huti-Stammes.

Doch das Leben im Hochland wurde mitunter sehr gewalttätig. Vergeltungsschläge zwischen rivalisierenden Gruppen wurden regelmäßig ausgeführt. Laut Ni Mhurchu trug fast jeder Mann eine Machete oder eine Waffe, Marke Eigenbau. Mehrmals täglich kamen Menschen mit schweren Verletzungen durch Macheten, Pfeile oder Speere in die Notaufnahme. Und Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen geworden waren. Laut Ni Mhurchu gibt es in keinem Land der Erde, wo ein aktiver Konflikt stattfindet, mehr Opfer sexueller Gewalt.

Würdevoll durch das Trauma begleiten

Ein Thema, das die Krankenschwester bis heute begleitet und für das sie auch an Bord der Aquarius zuständig ist: Wie kann man den Überlebenden bestmöglich Hilfe anbieten, um sie in einer würdevollen Art durch das Trauma zu begleiten?

Die Aquarius ist derzeit das einzige private Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer.
Foto: DER STANDARD/Bianca Blei

Ihre Expertise stützt sich nicht nur auf tägliche Erfahrungen, sondern vor allem auf die Arbeit in Afghanistan. Dort war sie zehn Monate lang im Einsatz und startete Programme für den Umgang mit Opfern sexueller Gewalt in vier der sechs MSF-Projekte im Land. Dabei kämpfte sie gegen das Stigma, das mit Vergewaltigungen einhergeht. "In den ländlichen Gebieten kann es eine Frage von Leben und Tod sein, wenn man als Frau darüber spricht", sagt Ni Mhurchu und nennt das Schlagwort Ehrenmorde. Widerstand in den eigenen Reihen gab es laut der Krankenschwester zu ihrer Überraschung nicht. Die afghanischen Mitarbeiter seien vielmehr erleichtert darüber gewesen, über die Verbrechen sprechen zu können und ein geeignetes Vorgehen zu erlernen. Etwa auf welcher Route man Frauen durch das Krankenhaus in einen sicheren Bereich führt, ohne dass alle Menschen in der Einrichtung von der Vergewaltigung hören.

Jedes Schiff ist ein Rettungsschiff

Auch an Bord der Aquarius ist sie für besonders gefährdete Gerettete zuständig, dokumentiert ihre Geschichten und betreut sie auch medizinisch. Dass die Helfer als sogenannter "Pullfaktor" für die Migranten und Flüchtlinge agieren, also ein Grund sind, warum diese die Fahrt über das Mittelmeer wagen, glaubt Ni Mhurchu nicht. Ihr sechswöchiger Einsatz in den Auffanglagern in Libyen habe ihr gezeigt, dass die Menschen keine Ahnung von der Aquarius oder den privaten Rettungsschiffen hätten. Es komme auch vor, dass überfüllte Schlauchboote – solange sie noch Treibstoff im Motor haben – vor dem Schiff davonfahren.

Prinzipiell seien viele Schiffe – von Cargo- bis zu Handelsschiffen – im zentralen Mittelmeer unterwegs. Jedes sei ein potenzielles Rettungsschiff, das in Seenot geratenen Menschen helfen muss. Die Besatzungen würden nach solch einer Rettung ihr Bestes geben, seien aber vor allem medizinisch meistens nicht gut genug ausgerüstet, um die Menschen adäquat zu versorgen. Immer wieder würden sie deshalb auch Gerettete zur Aquarius bringen. "Für uns sind sie alle Patienten", sagt Ni Mhurchu. "Wie zu Hause achten wir nicht darauf, woher sie kommen oder wer sie sind. Wir helfen." (Bianca Blei, 20.9.2018)