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Corbyn sucht den Durchblick.

Foto: REUTERS/Darren Staples/File Photo

Gelassen reist Jeremy Corbyn zum diesjährigen Jahrestreffen seiner Labour Party in Liverpool. Die nordwestenglische Heimat der Beatles und der berühmten Fußballklubs FC Liverpool und FC Everton stellt seit langem eine Labour-Hochburg dar, dort sind viele Gesinnungsfreunde des Vorsitzenden vom linken Parteiflügel zu Hause. Unter seinen Anhängern hat der britische Oppositionsführer, 69, beinahe Kultstatus. Aber auch viele zunächst kritische Parteifreunde nehmen den Londoner mittlerweile ernst, spätestens seit den überraschenden Zugewinnen bei der Unterhauswahl vor 15 Monaten.

Damals gewann die Arbeiterpartei mit einem dezidiert linken Programm – eine Million Sozialwohnungen binnen fünf Jahren, Abschaffung der Studiengebühren, mehr Geld für Schulen und Krankenhäuser – zehn Prozent hinzu und holte 30 zusätzliche Unterhaussitze. Mit 540.000 Mitgliedern darf sich Labour stolz als "größte Partei Westeuropas" bezeichnen. Dagegen können die Konservativen unter Premierministerin Theresa May gerade mal 124.000 Mitglieder vorweisen.

Abfuhr für May

Zudem zerfleischt sich die Regierungspartei über den für Ende März geplanten Brexit, Mays als Lösung geplantes Chequers-Papier erlitt auf dem Salzburger EU-Gipfel eine schwere Abfuhr. Kein Wunder, dass die Labour-Spitze selbstbewusst auftritt. "Diese Regierung hat abgewirtschaftet", glaubt die außenpolitische Sprecherin Emily Thornberry. "Wir streben rasche Neuwahlen an", berichtet Schattenfinanzminister John McDonnell.

Freilich spiegeln die Umfragen bisher den zur Schau getragenen Optimismus nicht wider. Im britischen System gilt es als Pflicht für eine Oppositionspartei, zwischen den Unterhauswahlen vor der Regierungspartei zu liegen; häufig liegt der Vorsprung im zweistelligen Bereich. Im Wahlkampf haben sowohl Tory- wie Labour-Administrationen in den vergangenen Jahrzehnten den Trend noch umkehren können.

In diesem Herbst aber liegt Mays wacklige Minderheitsregierung bei allen Instituten leicht vor Labour, im Durchschnitt mit 39 zu 37 Prozent, also dem gleichen Abstand wie bei der Wahl im Juni 2017 (43:41). Ein Problem für Corbyn? Skeptiker der hergebrachten Sichtweise verweisen darauf, dass Labour bei der letzten Wahl den Trend durchbrach und trotz Rückstands von rund 20 Prozent die Tories noch beinahe einholte.

Klare Mehrheit von Corbyn-Anhängern

Innerparteiliche Wahlen haben den Trend seit Corbyns Amtsantritt vor drei Jahren bestätigt: Je länger, desto mehr festigt die Parteilinke ihre Macht. Im Parteivorstand haben Corbyns Anhänger mittlerweile eine klare Mehrheit, der langjährige Generalsekretär Iain McNicol und dessen engste Mitarbeiter wurden durch linientreue Genossen ersetzt. Damit ist auch der Weg frei für die stärkere Disziplinierung der Unterhausfraktion, deren Verhältnis zum langjährigen rebellischen Hinterbänkler Corbyn weiterhin gespannt bleibt. Einer seiner Kritiker sieht die Beziehung sogar "ganz nah am Bruch".

Da ist es wieder, das Gerede von einer neuen "Partei der Mitte", in der sich viele der eher dem rechten Flügel zugehörigen Sozialdemokraten versammeln könnten. Historisch Gebildete weisen allerdings warnend auf das Beispiel der SDP hin, die sich 1981 von Labour abspaltete, mehrere Jahre hervorragende Wahlergebnisse erzielte, schließlich aber in den heute unbedeutenden Liberaldemokraten aufging. Nach wie vor gilt in Großbritannien das eiserne Gesetz: Im Mehrheitswahlrecht bleibt eine starke dritte Kraft eher die Ausnahme.

In Liverpool will Corbyn am Samstagabend bei einer öffentlichen Demonstration die Truppen um sich scharen, auch seine Abschlussrede am Mittwoch dürfte stark umjubelt werden. Freilich haben sich über den Sommer erste Zweifel an der Fähigkeit des Vorsitzenden manifestiert, die Partei wirklich an die Macht zu führen. Anstatt wie geplant für seine neue Wirtschafts- und Sozialpolitik zu werben, musste sich Corbyn zwei Monate lang mit letztlich ungeklärten Antisemitismusvorwürfen herumplagen. Schon klingen Äußerungen seines engen Vertrauten McDonnell sowie des Gründers der radikalen Gruppierung Momentum, Jonathan Lansman, deutlich weniger enthusiastisch. Der Chef aber wird sich von seiner Gelassenheit nicht abbringen lassen. (Sebastian Borger, 21.9.2018)