Es muss nicht gleich Liebe entstehen, wenn Menschen wieder mehr miteinander reden. Aber der Dialog sollte zum besseren Verständnis beitragen.

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"Also, beim Abendessen gestern war das so: Wir waren ja beim Vietnamesen, und bei mir war schon ein Stück Fleisch dabei. Aber ich habe es nicht triumphierend hochgehalten, sondern fast verschämt unter dem Reis versteckt." Während Ulrich erzählt, lacht er verschmitzt, und seine "Partnerin" Nicole stimmt mit ein. "Hab ich wohlwollend bemerkt", sag sie grinsend.

Der 65-jährige Rentner und die 50-jährige Übersetzerin kennen sich erst einen Tag lang. Vielleicht wären die beiden Berliner einander nie begegnet. Doch ein Algorithmus hat sie zueinander geführt – wie 10.000 andere Paare auch, die am Sonntag im Rahmen der Aktion "Deutschland spricht" im ganzen Land diskutierten.

Das Ziel der Diskussions-Initiative, die in Deutschland von Zeit Online sowie zehn weiteren Medien organisiert wird, und die am 13. Oktober in Österreich vom STANDARD als Projekt "Österreich spricht" veranstaltet wird: Menschen, die nicht einer Meinung sind, sollen miteinander statt übereinander schimpfen.

"Es geht um die Frage, ob wir uns weiterhin in unseren Echokammern verschanzen wollen oder ob wir den Dialog führen wollen über scheinbar Trennendes hinweg", sagt der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der in Deutschland Schirmherr der Veranstaltung ist.

Per Zufall ein Paar

Dem kann das Berliner Zufallspaar Nicole/Ulrich unisono zustimmen. Mit 49 weiteren Paaren hat es sich im Radialsystem, einem Veranstaltungsort an der Spree, eingefunden. Die meisten Paare lernen sich erst dort – im Saal bei Häppchen – kennen, Nicole und Ulrich hingegen waren am Abend zuvor schon essen.

"Das Fleisch trennt uns", sagt Nicole. Die Veganerin fordert höhere Steuern darauf. Denn: "Es leiden und sterben Tiere für jeden Bissen Fleisch." "Ja, weiß ich natürlich auch", erwidert Ulrich. Aber: "Fleisch gehört zu unserer Esskultur, erst recht, wenn man wie ich vom Land kommt." Er bietet einen Kompromiss an: "Jeder sollte ein bisschen weniger davon essen." Das findet Nicole gut.

Verständnis schützt vor Hass

"Es geht gar nicht darum, den anderen unbedingt auf seine Seite zu ziehen, sondern erst einmal seine Argumente anzuhören", sagt sie über die Diskussion. Ihr Fazit: "Wer den anderen versteht, kann ihn nicht hassen."

Der Satz gilt für sie auch, obwohl sich beim Thema Flüchtlinge Gräben auftun. "Wir schaffen das" – den berühmten Satz von Kanzlerin Angela Merkel interpretieren die beiden ganz unterschiedlich. "Ich fand das so anmaßend. Wie die Kaiserin von Europa diktierte sie den EU-Staaten den moralischen Ansatz", sagt Ulrich. "Ganz im Gegenteil", erwidert Nicole, "ich verstand das als Ermutigung für die Zivilgesellschaft, zu der wir alle gehören."

Das Thema spielt auch bei Susanne (65) und Norbert (51) eine Rolle. "Wir sind seit eineinhalb Stunden ein Paar", feixt der IT -Experte und löffelt zunächst einträchtig mit der Wirtschafterin Eintopf am Stehtisch. Doch als die Sprache auf Flüchtlinge kommt, ist die Kluft nicht nur hör-, sondern auch sichtbar. Die beiden rücken ein wenig auseinander.

Über das Trennende reden

"Jeder einzelne Mensch auf der Welt hat es verdient, dass wir uns um ihn kümmern und uns sein Schicksal nicht egal ist", sagt sie. "Deutschland kann nicht jeden retten. Wir können Entwicklungshilfe geben, aber die Menschen müssen sich dann selbst helfen", erwidert er. Nach kurzem Schweigen fügt er hinzu: "Aber ich finde es wichtig, über das Trennende zu reden und nicht gleich die Ohren zuzuklappen. Hinter jeder Meinung steht ja ein Mensch." Susanne nickt zustimmend.

Auch Bundespräsident Steinmeier lobt die Streiter: "Kommunikation mit Andersdenkenden ist anstrengend. Aber die Verweigerung dieser Kommunikation ist das Ende jeder Kompromissfähigkeit." Und derzeit laute das Motto leider oft: "Deutschland brüllt." (Birgit Baumann aus Berlin, 23.9.2018)