Wien – Albina Ruíz wuchs "im Dschungel" von Peru auf, wie sie es selbst beschreibt, als sechstes von zehn Kindern. Im Dorf wurde alles gebraucht und somit wiederverwendet. Müll sah sie das erste Mal mit 16 Jahren, als sie nach ihrem Schulabschluss nach Lima zog, um zu studieren. Das war 1975. "Mein Vater hat die gesamte Ernte verkauft, um mir das One-Way-Ticket finanzieren zu können, damit ich auf die Universität gehen kann", sagt sie. Er selbst war Analphabet. Die Kinder sollten es besser haben.

Der erste Eindruck von der Hauptstadt hatte für Ruíz nichts mit einem "besseren Leben" zu tun. Sie stieg bei einer Haltestelle namens "Jungle" aus dem Bus. Damit waren die Parallelen zu ihrem Dorf vorbei, erzählt sie dem STANDARD: "Es gab keinen einzigen Baum, dafür Berge von Müll, und es stank. Es war ein Schock."

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In Peru wird mit dem Recyceln von Müll Armut bekämpft.
Foto: AP / Rodrigo Abd

"Arme Menschen sind schmutzig"

In den folgenden Jahren konzentrierte sie sich auf ihre Studien: Als einzige Frau in ihrer Klasse schloss sie das Fach Wirtschaftsingenieurwesen ab. Es folgte "Ökologie und Umweltmanagement", und in Barcelona absolvierte sie ihr Doktorat der Chemie. Neben ihrer akademischen Karriere engagierte sie sich gegen die Vermüllung in ihrem Land – und stieß zunächst auf Widerstand. Als sie bei der Gemeinde nachfragte, warum manche Stadtteile so verkommen, bekam sie als Antwort: "Arme Menschen sind halt schmutzig."

Ruíz wollte sich damit nicht zufriedengeben. Sie organisierte eine Präsentation für verbesserte Routen der Müllabfuhr im Rathaus. "Ich kam von einer prestigeträchtigen Universität. Daher wurde ich angehört", sagt sie. Ihre Ideen stießen auf offene Ohren: "Noch vor meinem Uniabschluss gab mir der Bürgermeister einen Vertrag." Zunächst ging es nur darum, dass "die Menschen nicht im Müll ersticken", sagt sie.

Die Müllsammler werden mit Schutzkleidung, Impfungen und Gesundheitsvorsorge versorgt. Im Gegenzug sinken durch ihre Arbeit die Kosten der Müllentsorgung für die Kommunen.
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Müllsammler werden zu selbstständigen Kleinunternehmern

Nach einigen Jahren kam das Recycling als Schwerpunkt dazu. Das Sammeln von Papier, Metall und Plastik war für viele Obdachlose schon länger eine Einkommensquelle. Doch die Arbeitsbedingungen und der Lohn waren schlecht. Hier setzte Ruíz an.

Peru hat laut UN-Entwicklungsprogramm die zweithöchste Armutsrate in Südamerika. Laut Bericht von 2015 lebten 2013 rund 17 Prozent der städtischen und 53 Prozent der ländlichen Bevölkerung in Armut. Die Ökosysteme und die menschliche Gesundheit werde laut Autoren am meisten durch die ungenügende Entsorgung fester Abfälle gefährdet.

Ruíz fand einen Weg, Recycling und Armutsbekämpfung zu kombinieren. Mit der Gründung von Ciudad Saludable (Gesunde Stadt) gab sie ab 2001 den Sammlern Werkzeuge, um ihre Arbeit profitabel zu machen. Zunächst werden sie im Recycling ausgebildet, danach können sie als selbstständige Unternehmer für die Kommunen tätig sein. Dafür bekommen sie Schutzkleidung, Gesundheitsvorsorge und Impfungen. Als größten Erfolg sieht Ruiz, dass 2009 diese Arbeitsrechte in Peru gesetzlich verankert wurden.

Der Müllberg wird immer größer, sagt Albina Ruíz (Dritte von links), die sich seit Jahrzehnten erfolgreich für die Rechte der Müllsammler einsetzt.
Foto: Ciudad Saludable

Kosten für Entsorgung sanken

"Die Menschen müssen sich dadurch nicht mehr jeden Tag Sorgen ums Überleben machen", sagt sie. Und Stadtverwaltungen reduzieren ihre Müllentsorgungskosten. Ruíz' Idee wurde seither in vielen Städten Perus und anderen südamerikanischen Ländern wie Brasilien, aber auch in asiatischen Ländern wie Indien adaptiert. Die Arbeit wird nicht weniger werden, sagt Ruíz nachdenklich: "Im Fernsehen, im Radio – ununterbrochen hören wir, dass wir mehr konsumieren sollen." Sie macht mit ihren Fingern die Bewegung einer Schere und ergänzt: "Wir müssen den Müllstrom an der Quelle abtrennen."

Tausende Müllsammler fanden seit 2001 einen Weg aus der Obdachlosigkeit. Früher verdienten sie rund ein bis zwei Dollar pro Tag. Heute sind es acht bis zehn Dollar, sagt Ruíz: "Die Menschen ändern sich dadurch auch innerlich." Früher seien sie wie Aussätzige behandelt worden, nun werden sie respektiert, sagt Ruíz und ergänzt: "Wenn ich frage, was sie sich am meisten wünschen, höre ich oft die gleiche Antwort: Sie wollen ihre Kinder auf die Universität schicken." (Julia Schilly, 11.10.2018)