Sara Hassan: "Wir müssen besser darin werden, uns einzumischen."

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Die schwarze Frauenrechtlerin Tarana Burke (Mitte) hat schon 2006 zu #MeToo aufgerufen. Es sollte noch über zehn Jahre dauern, bis der Hashtag unüberseh- und unüberhörbar bar wurde.

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Es war der 16. Oktober letzten Jahres, als ich das erste Mal den Hashtag #MeToo las: "Wenn alle Menschen, die sexuell belästigt wurden, #MeToo als Status schreiben, können wir den Menschen ein Gefühl für das Ausmaß des Problems geben." Ich hatte keine Ahnung, was wir alle damit lostreten würden. Ich wusste zwar zu gut um den digitalen Mist, den man als Frau im Internet um die Ohren geschlagen bekommt, sobald eine den Mund über sexualisierte Gewalt aufmacht. Aber dieser Satz bildete eine Front. Es gab ein Wir. Und dieses Wir war so stark, dass ich keine Sekunde zögerte, meine Geschichten zu teilen. Und plötzlich ergab alles sehr viel mehr Sinn.

Ich erlebe seit meiner frühen Jugend sehr viele Übergriffe. Ich bin eine Woman of Color, eine nichtweiße Frau. Die Schwelle, mich anzugreifen, ist für viele sehr niedrig. Sexistische und rassistische Motive potenzieren sich. Der Effekt ist: Ich erlebe kaum einen Tag, ohne aufdringlich angeglotzt zu werden, ohne dass mir Männer viel zu nahe kommen und meine Integrität verletzen.

Muster und Pfade

Ich konnte das sehr lange nicht richtig einordnen. #MeToo rückte das alles ins rechte Licht. Die Momente der Scham, der Erniedrigung, Angst, Ohnmacht und der Ärger über diese Ohnmacht, das alles war nicht isoliert und persönlich. Die Geschichten folgten Mustern und Pfaden, in denen ich meine eigenen Geschichten wiedererkannte. Nicht ich oder mein Verhalten war das Problem, nicht mit mir war irgendetwas falsch, weil ich ständig belästigt werde. Dahinter stand ein globales System. Und darin ging es weit mehr um Macht, Dominanz und Herrschaft als um Sex.

Vor einem Jahr habe ich viel darüber getwittert, wie überrascht nun alle davon waren, dass Menschen sich als Täter entpuppten, von denen sie das nie gedacht hätten. Ich habe geschrieben, dass es realitätsfremd ist zu glauben, es gebe nur einen bestimmten Typ Mann, der Frauen belästigt. Ich weiß es besser.

Es gibt keinen Prototyp

Ich erlebe Übergriffe, wohin immer ich gehe, und daher kenne ich die vielen Gesichter der Täter. Ich weiß, dass es jeder sein kann, von dem man es am wenigsten erwartet hat, ebenso wenig wahrhaben will: der nette Zahnarzt, der beliebte Familienvater, der großväterliche Professor, jemand, den man für einen Freund gehalten hat. Es gibt keinen Prototyp. Was alle Täter eint: Sie haben Macht. Sie nehmen Menschen ins Visier, die in einer verletzbaren Position sind. Bei denen sie sich sicher sein können, dass sie schweigen werden, weil der Preis zu hoch ist.

Ein Jahr später ist die Aufmerksamkeit für das Thema nicht abgerissen. Ich habe in dieser Zeit viele Dutzend, vielleicht hundert persönliche Geschichten gehört. Auch aus meinem damaligen Arbeitsumfeld, dem EU-Parlament, wo sich die Geschichten über Übergriffe häuften. Wie in so vielen großen Institutionen in der Brüsseler Blase, in denen Macht so ungleich verteilt ist, werden Praktikantinnen als Freiwild betrachtet. Neue Mitarbeiterinnen, die die Spielregeln nicht kennen und unbedingt entsprechen wollen, werden schamlos ausgenutzt. Täter drängen Betroffene immer wieder in private Situationen, in denen sie allein, sind und isolieren sie so von ihrem Umfeld. Steile Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse, geballte Macht ohne Kontrolle und eine ausgeprägte Schweigekultur ermöglichten den Tätern, lange unbelangt zu bleiben. Ein Jahr später ist einiges passiert. Es kommt auch heute kaum jemand an #MeToo vorbei. Aber das ist nicht genug.

Wir müssen besser darin werden, uns einzumischen. Belästigung passiert nicht völlig unbemerkt. Meistens bekommt das Umfeld etwas mit. Und greift nicht ein. Viele sehen ihren Beitrag in der Abgrenzung. Stellen schnell klar, dass sie nichts mit alledem zu tun haben, dass sie keiner von denen sind, und meinen, damit sei es getan. Es reicht nicht, nichts zu tun. Nichts tun, das stützt ein System, in dem Täter die Grenzen immer weiter ausdehnen können. In all den Geschichten, die ich gehört habe, hätte eine einzige Person den entscheidenden Unterschied machen können. Eine Person, die aus ihrer Zuschauerrolle tritt und auf potenzielle Opfer zugeht, ein offenes Ohr hat, womöglich vor Leuten warnt, von denen man schon einiges weiß.

Reflexe umdrehen

Eine, die sagt: "Das ist nicht in Ordnung. Dich trifft keine Schuld, du hast darum nicht gebeten." Wir müssen unsere Reflexe umdrehen. Müssen verstehen, dass unser Verhalten als Dritte alles ausmachen kann. Uns viele unterschiedliche Strategien überlegen, mit denen man sich solidarisch zeigen kann. Und den Tätern zeigen: Hier hast du keine Chance, hier schauen wir aufeinander. Wir müssen die Person sein, die sagt: Das fand ich gerade nicht so cool. Gerade wenn das ein guter Bekannter oder Freund ist. Wir brauchen Menschen, die dazwischengehen, die verstehen, dass es ihr Privileg ist, nicht betroffen zu sein, und dass es ihnen so möglich ist, etwas zu unternehmen. Eine so lang gewachsene Kultur ändert sich nicht von heute auf morgen. Aber wir können uns jeden Tag entscheiden, diese Person zu sein. (Sara Hassan, 6./7.2018)