Wien – Christian Kern hat genug von der Politik. Er würde sich wohler fühlen, sagte er zum Abschied, wenn er wüsste, dass alle die Gerüchte und Intrigen, die anlässlich seines Rückzugs vom Parteivorsitz in die Welt gesetzt worden sind, vom politischen Gegner gekommen wären.

Die Erklärung von Christian Kern.
ORF

Waren sie aber nicht. Zwar werde "die Dichte der Intrigen" innerhalb der SPÖ überschätzt – aber so, wie es in den vergangenen drei Wochen abgelaufen ist, könne es nicht weitergehen: Nicht nur, dass die Abgabe des Parteivorsitzes vorzeitig ausgeplaudert wurde, auch dass sämtliche politischen Inhalte von personellen Spekulationen und unnötigen Kommentierungen überlagert worden sind, habe den Start des neuen Führungsteams unter Pamela Rendi-Wagner belastet und seinen eigenen Wechsel in die Europapolitik letztlich torpediert.

Abschied auf Raten

Also lud Kern für Samstagmittag in die SPÖ-Zentrale, um seinen völligen Abschied aus der Politik bekanntzugeben. Eine gute Viertelstunde hat er ihn noch hinausgezögert, denn landesweit waren Sirenenproben angesetzt – die sollten seine Abschiedsworte nicht überlagern. Denn ein bisschen ein Vermächtnis wollte er noch hinterlassen. Seine Vision von einem Europa mit mehr Integration darlegen. Den französischen Präsidenten Emanuel Macron loben, den er als treibende Kraft dafür sieht. Die neue politische Landschaft in Europa skizzieren: Er habe sich für die Europawahl ein "Projekt der Einigung der progressiven Kräfte" vorgestellt gehabt, das vereint mit Liberalen und Grünen "gegen die Kräfte der Obstruktion" antreten könnte.

Christian Kern hat nach zweieinhalb Jahren genug von der Politik.
Foto: Fischer

Die Wehmut war deutlich herauszuhören, als Kern von all dem sprach, was er nun nicht für möglich hält – oder jedenfalls nicht unter seinem politischen Management.

Totaler Abschied von der Politik

Dass er nun den nächsten Karriereabschnitt nicht in der Europapolitik verbringen wird, "heißt nicht, dass man kein politischer Mensch mehr ist", sagte er – doch politische Aufgaben will er keine mehr übernehmen, die letzten (etwa den Vorsitz des Renner-Instituts) beim Parteitag im November übergeben.

Dieser Parteitag war eigentlich für den Oktober geplant worden – und er hätte rund um das nach jahrelanger Diskussion endlich fertiggestellte Parteiprogramm inszeniert werden sollen. Aber dann war am 18. September Kerns Vorhaben bekannt geworden, in die Europapolitik zu wechseln und womöglich europaweiter Spitzenkandidat der Sozialdemokraten zu werden. Aber für diese ehrenvolle Aufgabe (die bei einem Wahlerfolg auch einen Anspruch auf das Amt des Kommissionspräsidenten mit sich gebracht hätte) hatte er nicht einmal die geschlossene Unterstützung der eigenen Partei, geschweige denn die der anderen sozialdemokratischen Parteien.

Ein Rückblick auf Christian Kerns politische Laufbahn bis zu den Ereignissen vom 18. September.
DER STANDARD

EU-Wahl als "Schlacht der Schlachten"

Er habe "nur die Fortsetzung des Klein-Klein erlebt", die österreichische Schlüsselloch-Perspektive – und kein Verständnis für die bei der EU-Wahl kommende "Schlacht der Schlachten um die Grundsätze, mit denen wir uns identifizieren".

Also raus aus der Politik. Und zurück in die Wirtschaft? Kern bezeichnet all die Gerüchte, die es um seine Zukunft im Management gegeben hat (oft wurde Gazprom genannt), als falsch. Vielleicht, deutet er an, werde er eine eigene Karriere als Unternehmer machen. Dabei werde er als vielleicht Einziges aus der Politik den Kontakt zu den vielen idealistisch gesinnten Parteimitgliedern fehlen.

Der Vorsitzende hat nicht alles in der Hand gehabt

Wer statt ihm die Spitzenkandidatur für die EU-Wahl übernehmen soll? Der von der neuen Parteichefin Pamela Rendi-Wagner vor die Tür gesetzte Obmann des Parlamentsklubs, Andreas Schieder, der bereits Ineteresse daran gezeigt hat und auf der Wiener Liste steht, gilt als wahrscheinlicher Anwärter auf die EU-Kandidatur. Kern mag das aber nicht mehr kommentieren. Nur eine Erkenntnis teilt er nach einer halben Stunde im Kreis der innenpolitischen Journalisten, die er in die Parteizentrale geladen hatte: "Du hast nicht alles in der Hand." Auch nicht als Parteivorsitzender. Jetzt will er wenigstens sein eigenes Leben in die Hand nehmen und sich ein gutes Glas Rotwein gönnen, denn einen guten Roten erkenne man am Abgang. (Conrad Seidl, 6.10.2018)