Ameisen sorgen mit aggressiven Chemikalien für Sauberkeit in ihrem Nest.

Foto: Christopher Pull

Wien – Wenn man sich mit Hunderttausenden Artgenossen ein Haus teilt, tut man gut daran, auf Sauberkeit zu achten. Kein Wunder also, dass Ameisen als außerordentlich reinliche Tiere gelten: Wenn die kleinen Insekten ein neues Nest beziehen, verbringen sie erst einmal mehrere Tage damit, die Unterkunft gründlich zu putzen. Dabei setzen sie auch ein recht potentes Desinfektionsmittel ein: die Ameisensäure. Die Substanz hält zwar das Nest sauber, ihre Verwendung ist aber nicht ohne Risiko, denn sie kann ungeschützte Brut töten. Nun haben Forscher um Sylvia Cremer und Christopher Pull vom Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) herausgefunden, dass der Seidenkokon die empfindlichen Puppen vor negativen Auswirkungen der Ameisensäure schützt.

Viele Ameisen erzeugen in speziellen Drüsen äußerst saure Chemikalien. Lange Zeit nahmen Forscher an, dass Ameisen dieses Gift, das hauptsächlich aus Ameisensäure besteht, nur versprühen, um andere Ameisen und mögliche Raubtiere abzuwehren. Doch Cremer und ihre Kollegen zeigten in zwei Studien, die 2013 und 2018 erschienen, dass Ameisen die saure Flüssigkeit verwenden, um Nestgenossen zu desinfizieren, die mit Krankheitserregern kontaminiert sind. In der jetzt im Fachjournal "Current Biology" erschienenen Studie finden die Wissenschafter einen neuen Nutzen für Ameisensäure: Ameisen der Spezies Lasius neglectus reinigen mittels Ameisensäure ihr Nest prophylaktisch, vermutlich um sicherzugehen, dass das Nest vor Erstbezug sauber ist.

Chemische Waffe und Putzmittel

Doch da Ameisen ihr Gift auch als chemische Waffe einsetzen, wirft die Verwendung im Nest weitere Fragen auf, wie Cremer erklärt: "Wie können Ameisen diese aggressive Säure in ihrem Nest versprühen und ihre sensible Brut damit einnebeln?" Denn während eine dicke Haut, die Cuticula, die erwachsenen Ameisen und eine harte Hülle, das Chorion, die Eier schützen, ist die Cuticula von Puppen dünn und durchlässig. Allerdings sind die Puppen von Lasius neglectus in einen Seidenkokon gehüllt, von dem die Forscher annehmen, dass er den Puppen einen gewissen Schutz bieten könnte.

Durch eine Reihe an Experimenten suchte das Team nach der Antwort. Erst entfernten sie den schützenden Seidenkokon von manchen Puppen und fanden, dass diese nackten Puppen alleine genauso gut überlebten wie in Kokon gehüllte Puppen. Doch wenn sie die nackten Puppen und Arbeiterinnen gemeinsam in ein Nest gaben, starben mehr nackte als eingehüllte Puppen. Ist das erhöhte Sterben eine Folge der Ameisensäure? Um das zu testen, klebten die ForscherInnen die Giftdrüsen der Arbeiterinnen mit Sekundenkleber zu.

Schutzhülle für die Kleinen

"Wir kreierten ein ‚funktionelles knock-out‘, indem wir Tiere erzeugten, die keine Ameisensäure versprühen können", erläutert Cremer. In einem Nest mit Arbeiterinnen, die keine Ameisensäure mehr versprühen können, hatten nackte und eingehüllte Puppen dieselbe Überlebenschance. "Es ist also die Ameisensäure, die nackte Puppen umbringt, und vor dem Puppen im Kokon geschützt sind", folgert Cremer – und wir verhalten uns ähnlich: "Beim Putzen mit aggressiven Mitteln verwenden wir auch Handschuhe, um uns zu schützen. Der Kokon hat also eine ähnliche Funktion wie Schutzhandschuhe."

Die Studie liefert das erste Beispiel auf Kolonieebene für sogenannte Immunpathologie, ein Phänomen, das auch vom menschlichen Immunsystem bekannt ist. Das Immunsystem bekämpft Krankheitserreger oft mit toxischen Substanzen, gleichzeitig muss es den Schaden für eigene Körperzellen möglichst gering halten. Das Immunsystem steht also vor der Crux, Pathogene so aggressiv wie möglich zu bekämpfen, und die körpereigenen Zellen und Organe dabei vor Kollateralschäden zu schützen. Ähnliches geschieht bei Ameisen auf der Ebene der Kolonie: Sie schützen die empfindlichsten Teile ihrer Kolonie vor schädlichen Nebeneffekten der Reinigung mit ihrem aggressiven Gift.

Rätsel um fehlende Kokons

Die Studie könnte auch eine Erklärung dafür liefern, weshalb manche Ameisenarten den ursprünglichen Kokon verloren und andere Arten in beibehalten haben, erklärt Christopher Pull: "Einen Kokon zu bauen ist für Ameisen mit Kosten verbunden, es kann etwa zu einer längeren Entwicklungszeit der Puppen führen. Weshalb manche Ameisenarten einen Kokon haben, während andere ihn verloren haben, ist bisher ungeklärt. Hier zeigen wir, dass der Kokon Ameisen in einer sensiblen Phase ihrer Entwicklung schützt. Zu klären bleibt, ob etwa Ameisenarten ohne Kokon ihre Nester mit weniger aggressiven Chemikalien reinigen." (red, 9.10.2018)