Ein Jahr #MeToo bedeutet auch: ein Jahr lang über sexuelle Übergriffe und den großen Unterschied zwischen der Lebensrealität von Frauen und Männern sprechen. Einige Einwände und Relativierungen kommen in diesen Diskussionen immer wieder – warum das so ist und wie man den Aussagen begegnen kann.

"#MeToo stellt alle Männer als Täter hin" aka #NotAllMen

Die Diskussion läuft meistens in etwa so ab: Frauen erzählen von ihren Erfahrungen, abwertenden Kommentaren auf der Straße, Grapschereien im Club, sexueller Gewalt. Ein Mann findet es an dieser Stelle wichtig anzumerken, dass sich nicht alle Männer so verhalten.

Wenn Sie sich als Mann nicht so verhalten wie geschildert: Gratulation, wunderbar, weiter so. Dann sind Sie tatsächlich einfach nicht gemeint. Die Betroffenen wissen, dass nicht alle Männer so sind, aber es sind genug, und es sind zu viele – und die Statistik belegt, dass deutlich mehr Männer als Frauen ein solches Verhalten an den Tag legen. Mit dem Argument wird vor allem darauf hingewiesen, dass man es für wichtiger hält, selbst nicht als Verdächtiger hingestellt zu werden, anstatt über das eigentliche Thema der Debatte zu reden, nämlich systematische Übergriffe auf Frauen und was dagegen unternommen werden kann.

"Was ist mit Frauen, die sexuelle Übergriffe begehen?"

Über die wird ausgiebig berichtet, etwa hier oder hier. #MeToo schreibt zwar weder Tätern noch Opfern ein Geschlecht zu, statistisch gesehen stellen Täterinnen allerdings eine Minderheit dar. Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung, worunter unter anderem Vergewaltigung, sexuelle Belästigung oder sexueller Missbrauch zählen, verübten in Österreich im vergangenen Jahr 1.169 Männer und 20 Frauen – Männer also fast 60-mal häufiger als Frauen.

Das heißt nicht, dass Männer quasi biologisch gesehen zu Übergriffen tendieren, vielmehr geht es um die Sozialisation, denn ein Übergriff stellt immer auch eine Machtgeste dar. Derer können sich eben auch mächtige Frauen in hierarchisch organisierten Institutionen bedienen. Männer befinden sich aber immer noch deutlich häufiger in Machtpositionen als Frauen – und damit an der Spitze eines Systems, das Übergriffe begünstigt.

"Gewalt und Übergriffe gegen Männer werden verharmlost. Was ist mit den männlichen Opfern?"

Leider gibt es natürlich auch männliche Opfer von Gewalt und Belästigung. Nichts sprach oder spricht dagegen, dass sie ihre Erlebnisse ebenfalls unter #MeToo posten. Vor allem nicht, da sie in der Regel auch Opfer männlicher Gewalt und damit der gleichen toxischen Männlichkeit sind, unter der auch weibliche Betroffene leiden. Es ist aber auch hier darauf hinzuweisen, dass statistisch die Zahl männlicher Opfer weitaus geringer ist als die weiblicher.

Von sexueller Belästigung und sexueller Gewalt berichteten einer Studie aus dem Jahr 2011 zufolge Frauen etwa dreimal häufiger als Männer. Laut der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie waren 2017 österreichweit 83 Prozent der gemeldeten Opfer häuslicher Gewalt weiblich – während die Gewalt in 88 Prozent der Fälle von Männern ausging. Seit 2012 wurden insgesamt 122 Frauen von Männern und sieben Männer von Frauen innerhalb eines Nahe- oder Beziehungsverhältnisses getötet.

"Echte Übergriffsopfer warten nicht jahrelang, bis sie Anschuldigungen erheben"

Expertinnen zufolge ist es keine Seltenheit, dass sich Opfer erst Jahre oder Jahrzehnte später melden. Viele Betroffene kämpfen mit Angst, Scham und Selbstvorwürfen, auch die Machtverhältnisse spielen oft eine Rolle. Es dauere, bis das Erlebte realisiert und verarbeitet werde, erklärt Ursula Kussyk von Verein Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen. Was später dann die genaue Motivation war, an die Öffentlichkeit zu gehen, sei immer unterschiedlich. Auslöser könnte etwa ein aktuelles Ereignis sein oder ein Ort, den man besucht, der das Erlebte wieder hervorhole. Wichtig zu beachten ist in diesem Zusammenhang: Die meisten Opfer melden sich nicht spät, sondern gar nicht, wie man aus Umfragen und von Beratungsstellen weiß. In Österreich zeigen etwa nur 8,8 Prozent der Frauen, die eine Vergewaltigung erlebt haben, diese überhaupt an.

Zahlreiche Opfer sexueller Übergriffe teilten ihre Erfahrungen unter #MeToo. Immer wieder wird ihnen vorgeworfen, unglaubwürdig zu sein.
Foto: APA/AFP/MARK RALSTON

"Die Frau will doch nur Aufmerksamkeit oder die Karriere des Mannes zerstören. Männer sind die wahren Opfer"

Dass sich Opfer erst spät oder gar nicht melden, hängt auch mit Aussagen wie diesen zusammen: Denn wegen solcher Äußerungen befürchten viele, dass ihnen ohnehin nicht geglaubt und es keine Konsequenzen für den Täter geben wird. Das stetige Wiederholen dieses Arguments führt zudem dazu, dass Männer in eine konstante Angst vor falschen Vorwürfen gedrängt und damit gegen eine Bewegung aufgehetzt werden, die eigentlich übergriffige Männer zur Verantwortung ziehen will.

Dabei ist diese Angst eigentlich unbegründet, denn in der Realität sind falsche Anschuldigungen selten: Eine europaweite Studie zum Thema Vergewaltigung kam 2009 zu dem Schluss, dass in Österreich vier Prozent der Anschuldigungen absichtlich falsch sind. Innerhalb der elf untersuchten Länder, in denen jeweils 100 Vergewaltigungsfälle analysiert wurden, lag der Wert demnach zwischen einem und neun Prozent. Eine britische Untersuchung aus dem Jahr 2005, die sich auf 2.643 Vergewaltigungsfälle im Zeitraum 2000 bis 2002 bezieht, verortet die Anzahl ähnlich zwischen 2,5 bis 8,2 Prozent. Eine US-Studie, die sich auf differenzierte Polizeiangaben aus dem Jahr 2008 stützt, kommt auf 6,8 Prozent. Zudem folgen die tatsächlichen Falschanschuldigungen meist einem eingegrenzten Muster, das sich wiederholt und relativ leicht als falsch zu erkennen ist. Tatsächlich ist es statistisch gesehen wahrscheinlicher, dass Männer selbst Opfer sexueller Übergriffe als Opfer einer Falschanschuldigung werden.

Trevor Noah, Host der "Daily Show", veranschaulicht, wie US-Präsident Donald Trump die Debatte über "wahre Opfer" prägt und Menschen eine Opferrolle einredet, "die den wenigsten Anspruch darauf haben".
The Daily Show with Trevor Noah

"In der Debatte werden alle Frauen zu Opfern"

So wie nicht alle Männer gleich Täter sind, sind auch nicht alle Frauen Opfer. Wenn Sie eine Frau sind oder eine kennen, die tatsächlich noch nie sexuelle Gewalt oder Belästigung erfahren hat, dann ist das etwas Gutes. Statistisch gesehen sind Frauen aber nun einmal deutlich häufiger Opfer sexueller Übergriffe als Männer – über ihre Erlebnisse zu sprechen macht sie jedoch nicht dazu, das tut nämlich der Übergriff selbst, der Täter also. Die Wahrheit zu sagen, die Schuld nicht bei sich zu suchen, darüber wütend zu sein – dazu sollten Betroffene ermutigt werden, anstatt ihnen vorzuwerfen, dass sie sich damit in die Opferrolle bringen. Hier schwingt nämlich in der Regel der Vorwurf mit, sie hätten sich wehren können.

"Wenn es so schlimm war, hätte sie sich gewehrt"

Grenzüberschreitungen oder Übergriffe wirken sich auf Opfer unterschiedlich aus. In einer Situation kann die betroffene Person tough und aktiv sein, in einer anderen hilflos und verängstigt. Keine der Reaktionen sollte Betroffenen zum Vorwurf gemacht werden. Geschieht dies doch, wird Victim-Blaming betrieben, die Schuld für den Übergriff wird also beim Opfer anstatt beim Täter gesucht. Wie bei den meisten Einwänden gegen #MeToo handelt es sich auch hier in der Regel um einen Versuch, die Diskussion in eine andere Richtung zu lenken und nicht mehr über die systematischen Übergriffe gegen Frauen und die Täter zu sprechen.

"Wer dumme Anmachsprüche oder sexistische Witze unter #MeToo teilt, verharmlost Vergewaltigungen"

Frauen werden in unterschiedlichen Intensitäten kontinuierlich beleidigt, belästigt, bedrängt, geschlagen, vergewaltigt und ermordet. Es beginnt bei ekelhaften Blicken und blöden Sprüchen, führt weiter zu Aufdringlichkeiten, Grapschereien und kann in Gewalt, ja sogar mit dem Tod enden (siehe Grafik).

Die Angst davor hat dauerhafte Auswirkungen, sie schränkt Mädchen und Frauen in ihrer Freiheit und ihren Entfaltungsmöglichkeiten ein. Keiner Person, die sich etwa unter #MeToo über einen sexistischen Spruch echauffiert, würde dabei in den Sinn kommen, einen Vergleich mit Vergewaltigungen oder anderen Formen sexueller Gewalt anzustellen. Doch sexistische Sprüche zeigen ein sexistisches Weltbild, und erst der Blick auf möglichst viele Erfahrungen ermöglicht einen Perspektivenwechsel und wirkliches Verständnis für die Welt voller Sexismus und Übergriffe, der Frauen und Mädchen täglich ausgesetzt sind.

"Jetzt darf man nicht einmal mehr flirten!"

Doch. Flirten darf man weiterhin – und zwar genauso, wie man hoffentlich auch vorher schon geflirtet und sich angenähert hat: nämlich in gegenseitigem Einverständnis. Dieses kann verbal oder nonverbal erfolgen und sollte für jeden Menschen erkennbar sein, der jemals mit einem anderen interagiert hat und den es kümmert, wie seine Handlungen bei seinem Gegenüber ankommen. Möglicherweise sorgen in der Gesellschaft verbreitete Sichtweisen wie "Frauen wollen erobert werden" oder "Nein heißt ja" für Verwirrung. Aber eigentlich sollte es selbstverständlich sein, zwischen einem Flirt und einem sexuellen Übergriff zu unterscheiden. Im Zweifel könnte man die Betroffene einfach fragen – und die Antwort respektieren.

"Männern wird in der Diskussion der Mund verboten"

In erster Linie geht es um Frauen und ihre Erfahrungen. Zur Abwechslung sollte es möglich sein, auch einmal ihnen Raum zu geben zu berichten, denn Nichtbetroffenen fehlt hier einfach die Erfahrung alltäglicher Diskriminierung und Erniedrigung von Frauen. Das heißt nicht, dass man gar nichts tun kann. Man(n) kann Frauen, die sich zu #MeToo äußern, unterstützen, ermutigen, bestärken. Das Wichtigste wäre aber zunächst: Ihnen glauben. (Noura Maan, 26.10.2018)