Wer beim Marathon den Tiefpunkt überwunden hat, kann einige Kilometer vor dem Ziel noch einmal ein plötzliches Glücksgefühl erleben.

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Sportpsychologe Stoll: "Es gibt auch eine dunkle Seite des Flows."

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Das sogenannte "Runner's High" ist einer der ganz großen Mythen unter Läufern. Es soll jener Zustand beim Laufen sein, in dem der Körper ganz plötzlich von einem Glücksgefühl durchflutet wird und es sich wie von selbst und ohne Mühen läuft. Der deutsche Sportpsychologe Oliver Stoll erklärt, was hinter dem unwissenschaftlichen Begriff wirklich steckt – und wie man in den "Flow" kommt.

STANDARD: Gibt es das "Runner's High"?

Stoll: Das kommt darauf an, wie man es definiert. Den Begriff "Runner's High" gibt es in der Sportpsychologie eigentlich gar nicht. Aber es gibt einige Phänomene, die in die Richtung gehen und die wissenschaftlich auch ganz gut nachgewiesen sind.

STANDARD: Zum Beispiel?

Stoll: Läufer können in eine Situation kommen, in der sie völlig in dem aufgehen, was sie gerade machen. Das ist ein Gefühl, als ob alles fließt, und wird Flow genannt. Was es auch gibt: Viele Marathonläufer laufen die ersten 30, 32 Kilometer in relativ gutem Zustand. Dann brechen sie ein. Das hat oft etwas mit der Stoffwechselumstellung von Kohlehydrat- auf Fettverbrennung zu tun. Wenn die vonstattengegangen ist, haben manche aber auf einmal das Gefühl, dass es wieder läuft. Da finden sie die zweite Luft. Das kann ein richtiges Glücksgefühl sein. Ganz wenige scheinen beim Laufen auch tatsächlich rauschähnliche Zustände zu erleben. In der Fachliteratur ist beispielsweise von einem Ultramarathonläufer die Rede, der während eines 135-Meilen-Rennens Büsche und Bäume sah, die sich in Dinosaurier verwandelten.

STANDARD: Wie sind diese Phänomene zu erklären?

Stoll: In den 1980er- und den frühen 1990er-Jahren machte man dafür Endorphine verantwortlich, die der Körper ausschüttet. Man stellte die durchaus plausibel klingende Hypothese auf, dass diese Endorphine wie ein Analgetikum, also wie ein Schmerzmittel, wirken und dass die verminderte Schmerzwahrnehmung und ein damit einhergehender euphorischer Schub dann das Runner's High ist. Allerdings kommen Endorphine nicht durch die Blut-Hirn-Schranke. Das heißt, dass das, was man im Blutkreislauf misst – wie das bei den Studien gemacht wurde –, nichts darüber aussagt, was im Gehirn passiert. Man ist von dieser Theorie wieder abgekommen, auch wenn sie in Medien bis heute sehr präsent ist.

STANDARD: Und wo steht die Wissenschaft heute?

Stoll: Heute glauben viele, dass das "Runner's High" auf Endocannabinoide zurückgeführt werden kann. Das wird gerade untersucht. Endocannabinoide sind Cannabis-ähnliche Substanzen, die vom Körper selbst produziert werden und die die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Sie wirken schmerzlindernd und können bewusstseinsverändernde Zustände hervorrufen.

STANDARD: Man weiß also noch nicht genau, warum man beim Laufen in den Flow kommt. Aber weiß man, wie man in diesen Zustand kommen kann?

Stoll: Laut Hypofrontalitätstheorie beginnt das Gehirn bei submaximaler Belastung – also bei Belastung, die knapp unter dem Anschlag liegt – damit, Hirnareale herunterzufahren, um Ressourcen zu sparen. Beim Laufen eines Marathons müssen wir sehen und hören können, und wir brauchen unsere Motorik. Aber wir müssen keine Probleme lösen, müssen nicht grübeln und nachdenken. Das findet im präfrontalen Cortex statt. Das Gehirn reguliert dieses Areal also herunter. Das könnte durchaus Sinn machen, denn beim Flow verschwimmt beispielsweise die Raum- und Zeitwahrnehmung, was ebenfalls im präfrontalen Cortex stattfindet.

STANDARD: Man muss sich also pushen, um in den Flow zu kommen?

Stoll: Wenn man in den Flow kommen will, dann ja. Aber wenn man morgens locker joggen geht, den Sonnenaufgang sieht und sich in der lockeren Belastungssituation gut fühlt, dann ist das eine positive Erfahrung, auch wenn man nicht in den Flow kommt.

STANDARD: Können den Flow nur gute Läufer erreichen?

Stoll: Nein. Der Urvater der Flow-Forschung, Mihály Csikszentmihályi, war der Ansicht, dass man den Flow-Zustand erreicht, wenn die Anforderung ungefähr dem Zustand entspricht, den man in der Lage ist zu leisten. Wenn jemand seine Intensität gut dosiert, kann also auch ein Anfänger Flow erleben. Das Problem ist bei Laufanfängern aber, dass sie zu schnell laufen.

STANDARD: Angenommen, ich habe beim Laufen einen Flow erlebt. Wie lange wirkt der nach dem Lauf nach?

Stoll: Er schwingt ein bisschen nach, verschwindet dann aber wieder. Aber wir kennen das "Feeling-Better-Phänomen": Menschen fühlen sich nach dem Sport bis zu vier Stunden lang besser als zuvor. Die negativen Emotionen sinken, die positiven werden verstärkt. Man könnte meinen, dass man sich durch dieses gute Gefühl nach dem Sport zur Bewegung konditioniert. Das funktioniert aber nur in gewissen Grenzen.

STANDARD: Also egal ob Flow oder nicht, nach dem Sport fühlt man sich besser?

Stoll: Richtig.

STANDARD: Kann der Flow süchtig machen?

Stoll: Diese Gefahr sehe ich nicht. Die Sportsucht ist keine offiziell anerkannte psychische Erkrankung. Es gibt sie zwar, allerdings ist die Prävalenz so gering, dass man kaum einen Betroffenen finden wird.

STANDARD: Kann der Flow auch gefährlich sein?

Stoll: Sofern die Hypofrontalitätstheorie stimmt, wonach das Gehirn Areale runterreguliert, die es nicht braucht, ist das natürlich ein Problem bei riskanten Sportarten. Wenn man beim Trailrunning in den Bergen im Flow ist, ist das gefährlich, weil das Problemanalysesystem heruntergefahren wird. Also ja, es gibt die dunkle Seite des Flows. Aber ein Straßenmarathon ist eine Strecke ohne große Gefahren. Und in dem Moment, wo wirkliche Schmerzen einsetzen, wird sofort der präfrontale Cortex aktiv. Das ist ein Schutzmechanismus – und das ist gut so. (Franziska Zoidl, 21.10.2018)