Regelmäßig wird das konsensorientierte Prinzip von Rede und Gegenrede der Praxis eines zirkusartigen Spektakels geopfert.

Grafik: Klaus Platon Grütsch

Zugegeben, öffentliche Debatten sind oft frustrierend. Sie sind laut und hektisch, repetitiv, verquast, kurzatmig, zerfahren. Die Beiträge sind in ihrer schieren Masse unüberschaubar. Angesichts der Eigenlogik eines Medienbetriebs, der von Auflagen-, Zuschauer- und Zugriffszahlen lebt, bleiben Zwischentöne und Differenzierungen zwangsläufig auf der Strecke. Regelmäßig wird das konsensorientierte Prinzip von Rede und Gegenrede der Praxis eines zirkusartigen Spektakels geopfert, dessen Teilnehmer aufreizend vorsätzlich aneinander vorbeireden. Den wenigsten scheint es dabei um die Sache zu gehen, sondern vielmehr darum, schon immer recht gehabt zu haben. Deshalb führen öffentliche Debatten auch so selten zu Erkenntnisgewinn, von einer Einigung über widerstreitende Standpunkte einmal ganz zu schweigen.

Argumente simulieren

Kein Wunder, dass allenthalben von der Krise einer Öffentlichkeit die Rede ist, die gerade im Zeitalter der digitalen Medien zu einem Schauplatz "kollektiver Erregung" (Bernhard Pörksen) zu verkommen drohe. Ein ganzes Sachbuchgenre lebt mittlerweile von medientheoretischen Alarmrufen: Die öffentlichen Gesprächsräume gerieten zunehmend in Geiselhaft der Social Media; der gesellschaftliche Diskurs drohe in zahllose, voneinander weitgehend isolierte Kommunikationsinseln zu zerfallen, deren Bewohner einander gegenseitig ihre Lieblingsmeinungen bestätigen; die Sphäre der Öffentlichkeit verwandle sich in ein gigantisches Meinungskarussell, das sich zwar immer schneller dreht, den Austausch von Argumenten aber allenfalls noch simuliert.

Gerade angesichts der massiven Verschiebungen, die die Digitalisierung für das Funktionieren von Öffentlichkeit bedeutet, spricht durchaus einiges für diese Diagnose. In der Tat haben sich die aufmerksamkeitsökonomischen Rahmenbedingungen mit der Vermehrung der Kommunikationskanäle sowie der Zahl derer, die sich über sie in den öffentlichen Diskurs einschalten können, innerhalb einer erstaunlich kurzen Zeitspanne erheblich verschärft. Und in der Tat können mittlerweile auch Wortbeiträge in den Genuss großer Publizität gelangen, die Ende des vergangenen Jahrtausends noch im Papierkorb von Leserbriefredaktionen beerdigt worden wären.

Eine schlichte Gegenfrage sei dennoch erlaubt: Ist die Lage wirklich völlig neu? War das Niveau öffentlicher Auseinandersetzungen früher so viel höher? Wer einmal auch nur einen kurzen Blick in eine der vielen hasserfüllten, vor Fake-News strotzenden anonymen Schmähschriften gegen Königin Marie-Antoinette geworfen hat, die im Vorfeld der Französischen Revolution massenhaft publiziert wurden, wird das sicher nicht so pauschal unterschreiben wollen. Auf dem Marktplatz der Meinungen, der sich zu dieser Zeit als eigenständige Sphäre formierte, wurden von Beginn an Informationen, Argumente und Wertungen höchst unterschiedlicher Qualität umgeschlagen. Und auch in den respektablen publizistischen Organen dominierte nicht die Gedankenschärfe eines Kant. Das allermeiste war intellektuelle Dutzendware, wirre Pamphletrhetorik, Prinzipienreiterei und langatmiges Gerede.

Wille zum Konsens?

Aber hat sich der öffentliche Diskurs früher nicht immerhin durch übersichtliche Verhältnisse und den unbedingten Willen zum Konsens ausgezeichnet? Auch daran zweifle ich ehrlich gesagt.

Ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: Im Jahr 1989 trat die Bürgerinitiative "Perspektive Berlin" mit dem Aufruf an die Öffentlichkeit, man solle in der ehemaligen Reichshauptstadt ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichten. Der Vorstoß erhielt sehr rasch so viel Unterstützung im Politik- wie auch im Kulturbetrieb, dass bald schon öffentlich über Sinn und Unsinn, Vorzüge und Nachteile eines solchen Unternehmens diskutiert wurde. Da sie an Grundfragen des nationalen Selbstbilds rührte und zugleich über Jahre weder über Standort, Konzeption noch Gestaltung Einigung erzielt werden konnte, fiel die Debatte, die die Zeitgeschichte unter dem Label "Denkmalstreit" abgeheftet hat, extrem kontrovers, chaotisch und langwierig aus.

Als schließlich 1999 der Bau des Berliner Stelenfelds – bei immerhin 209 Gegenstimmen, also durchaus nicht einmütig – vom Deutschen Bundestag beschlossen worden war, erschien, neben zahlreichen weiteren Publikationen, auch eine Dokumentation, die antrat, den Denkmalstreit zusammenfassend aufzuarbeiten. Auf 1300 eng bedruckten Seiten versammelte das großformatige, bleischwere Mammutkompendium in chronologischer Folge alles, was die Herausgeber aus zehn Jahren Denkmalstreit an öffentlichen Debattenbeiträgen ermitteln konnte.

Da es sich um ein klassisches gedrucktes Nachschlagewerk handelte, blieben die umfangreichen Bewegtbild- und Tonbeiträge ebenso unberücksichtigt wie die zahllosen öffentlichen Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen, die die Meinungskämpfe während dieser Zeit landauf, landab am Laufen gehalten hatten (die neuen Medien spielten damals noch eine marginale Rolle). Von einer vollständigen Abbildung der Debatte konnte nicht die Rede sein.

Kein Orientierungsgewinn

Doch obwohl das Buch lediglich einen Teilausschnitt lieferte, war es schlicht unlesbar – der Orientierungsgewinn, der mit der akribischen Sammlung der Quellen verbunden war, wurde von der überbordenden Materialfülle pulverisiert. Ich bin mir meines Urteils deshalb so sicher, weil ich seinerzeit um eine Rezension des Werks gebeten worden war und voreilig zugesagt hatte. Eifrig stürzte ich mich in die Lektüre, fest gewillt, es nicht bei oberflächlicher Kenntnisnahme zu belassen. Bald aber war ich vom Kampf mit dem Durch-, In-, Über-, Neben- und Gegeneinander der Positionen, von denen die meisten sich um kein Jota aufeinander zubewegten, so wundgerieben, dass ich den Beitrag entnervt absagte.

Dabei hatte sich der Denkmalstreit mit dem Bundestagsbeschluss keineswegs erledigt. Auch danach drehte er immer weiter die immer gleichen vorhersehbaren und doch zugleich erratischen Spiralen. Noch mehr als zehn Jahre später sprach Lothar Müller in der Süddeutschen von einer "unabgeschlossenen Diskussion", deren wesentliche Fragen während der ganzen langen Zeit "zwar entschieden wurden, aber nicht letztgültig beantwortet werden konnten". Und er sagte voraus, dass das Thema früher oder später wiederkehren werde. Mittlerweile wissen wir, dass er recht hatte.

Bild in der Rückschau

Mittlerweile liegen auch eine ganze Reihe zeitgeschichtlicher Monografien vor, deren Autoren und Autorinnen sich akribisch durch die Materialberge gearbeitet und dabei versucht haben, Übersicht in das chaotische Stimmengewirr zu bringen. Dass das, bei allen Unterschieden im Detail, durchaus überzeugend gelingt, lässt mindestens zwei Schlüsse zu. Erstens: Übersichtlichkeit ist ein Distanzphänomen. Das Bild klärt sich erst allmählich in der Rückschau, und zwar in einem langwierigen und vielstufigen Prozess, der wesentlich auf bewusstem Hervorheben und Weglassen beruht. Wer die öffentlichen Auseinandersetzungen der eigenen Gegenwart an derselben Elle misst, erwartet schlicht zu viel. Zweitens: So zahlreich die Beiträge auch sind – offenbar kann man die Positionen, die sich auch gegenüber komplexeren Fragestellungen einnehmen lassen, letztlich meist doch an zwei Händen aufzählen. Überforderung sieht anders aus.

Die Beobachtung, dass auch historische Debattenrückblicke kaum je eine Annäherung der unterschiedlichen Meinungslager zutage fördern können, stützt darüber hinaus die Intuition, dass man besser keine überspannten Erwartungen an die dissensauflösende Kraft öffentlicher Auseinandersetzungen haben sollte. Die meisten enden nicht etwa, weil eine Einigung über die Inhalte erzielt wurde. In der Regel laufen sie sich früher oder später einfach tot, egal ob auf analogen oder digitalen Kanälen. Mal, weil die Kombattanten müde, mal, weil andere Themen interessanter geworden sind, mal, weil politische Entscheidungen Fakten geschaffen haben. Bei der entsprechenden Gemengelage kann das Spiel jederzeit von vorn beginnen. Das aber ist kein Grund zum Jammern, sondern in politischen Systemen, die keine letzten Wahrheiten anerkennen, nicht anders zu erwarten.
(Christian Demand, 19.10.2018)