Am Beispiel des AMS-Algorithmus können wir die ersten Schritte in eine Welt beobachten, in der Wahrnehmung zusehends algorithmisch überformt wird.

Cartoon: Felix Grütsch

Die STANDARD-Berichte zum AMS-Algorithmus geben einen Einblick in ein auf den ersten Blick widersprüchliches Phänomen unserer Gesellschaft: die enorme Ausdehnung von Bürokratie, wenn sich Digitalisierung und Neoliberalismus treffen. Eine gewagte These (wie sie der US-Anthropologe David Graeber vertritt), verspricht doch der Neoliberalismus den Abbau staatlicher Bürokratie und die Digitalisierung eine enorme Effizienzsteigerung in allen Bereichen unseres Lebens und Wirtschaftens. Aus einer funktionalistischen Sicht könnte es stimmen, doch Bürokratie ist nicht nur die vermeintlich "rationalste Form" der Verwaltung, sie ist, wie es Max Weber gesagt hat, auch die "rationalste" Form der Herrschaft.

Bürokratie bedeutet, wörtlich übersetzt, Herrschaft des Büros. Diese Herrschaft bedient sich einer von ihr entwickelten grundlegenden Technik, nämlich der verschriftlichten Aufzeichnung aller sie interessierenden "Objekte". Ob dies geschäftliche Prozesse oder die Verwaltung von Staat und Gesellschaft waren, als existent galt nur das, was schriftlich festgehalten, kategorisiert und damit vergleichbar wurde.

Verrechnung der Gesellschaft

Diese Sozialtechnik beinhaltete spätestens mit dem Beginn der Industrialisierung eine Einteilung der Bevölkerung in Gruppen. Die gesammelten Daten, zum Beispiel aus Volkszählungen, ermöglichten Vergleiche und Interpretationen oder, soziologisch ausgedrückt, eine Verrechnung der Gesellschaft.

Nicht zuletzt war dies ein Weg, gefährliche Klassen wie das entstehende Industrieproletariat einer Beobachtung zu unterziehen. Der technische Inhalt war also eine Erfassung, der soziale/politische Inhalt eine Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen.

Cornelius Castoriadis, ein französisch-griechischer Philosoph, Psychoanalytiker und Soziologe, radikalisierte im 20. Jahrhundert die Ansicht Webers von Bürokratie als Herrschaft. Seine These lautete: Bürokratie als Herrschaftsverhältnis ist nicht objektiv oder rational, sondern basiert auf einer interessengeleiteten Strukturierung unserer Wirklichkeitswahrnehmung und unserer Wahrheitsdefinitionen. Die Wahrnehmung unserer Umwelt und auch die von uns selbst ist maßgeblich für unser Verhalten.

Diese Form der Herrschaft hat aber zwei Schwachstellen. Erstens: Analoge Datenstrukturen waren ungenau und arbeiteten mit Durchschnittswerten, und als Teil dieses Durchschnittswertes konnte ich immer für mich in Anspruch nehmen, ich sei vielleicht das eine Prozent, das nicht dem Durchschnitt entspricht. Das bedeutet zweitens, die Interpretation, also die Konstruktion von Wahrheit, war ein sozialer Prozess (gebunden an interpretierende Personen), in den ich, wenn nötig, durch soziale Interaktion eingreifen konnte.

Digitaler Zwilling

Nun droht, dass diese Schwachstellen durch Digitalisierung geschlossen werden und die Herrschaft des Büros, nun 4.0, sich ausdehnt. Digitale Informationslandschaften arbeiten nicht mehr mit grobkörnigen statistischen Informationen wie Durchschnittswerten, sondern mit individualisierten, granularen Informationen. Spätestens seit Cambridge Analytica wissen wir, dass Algorithmen uns als digitalen Zwilling viel feiner als jemals zuvor konstruieren.

Algorithmen, so die Erzählung, sind objektiv und rational, denn sie sind mathematische Formeln. Das sind sie, aber es sind Fragen, die in mathematische Formeln gegossen sind und je nach Interesse des Fragestellers aus einer unübersichtlichen Menge an Daten eine spezifische Information konstruieren.

Das Problem ist, dass der Algorithmus des Arbeitsmarktservice Erwerbslose nun als Risikofaktor konstruiert. Mein AMS-Betreuer sieht mich aufgrund meines "digitalen Zwillings" im EDV-System als Risiko, und auch ich beginne mich als einen wandelnden Risikofaktor zu verstehen. Vielleicht bezweifle ich, dass die Information der Wahrheit oder Wirklichkeit entspricht. Mein Berater wird sagen: Das ist nicht meine Interpretation, das ist der Algorithmus, also höhere, "objektive" Mathematik. Der Vorgesetzte wird nichts anderes sagen. Wo soll man sich dann hinwenden, an den Herrn Algorithmus? Noch scheint es nicht so weit gekommen, der AMS-Berater kann auch "künftig die Einteilung von Menschen durch den Algorithmus ändern".

Alles gut? Nein! Am Beispiel des AMS-Algorithmus können wir die ersten Schritte in eine Welt beobachten, in der Wahrnehmung zusehends algorithmisch überformt wird. Die Verhandlung meiner Person am Arbeitsmarktservice (als nur ein Beispiel) geschieht nun auf Basis einer veränderten Informations- und Wirklichkeitsstruktur. Soziologisch gesprochen sind dies erste Schritte einer "technischen Schließung" sozialer Interpretations- und Interaktionsprozesse. Doch durch Bürokratie 4.0 droht noch eine viel größere Gefahr als die direkte Kopplung von Maßnahmen an algorithmische Auswertungen, wie es anscheinend im Arbeitsmarktservice ab 2020 geplant ist.

Ein Blick in die Welt der betrieblichen Bürokratie, namentlich in das Controlling und seine neuesten Entwicklungen, zeigt dies. Verhaltensorientiertes Controlling soll das "Wollen und Können" der Beschäftigten steuern. Über gezielte Informationen soll die Wahrnehmung so strukturiert werden, dass sie sich wie gewünscht verhalten. Algorithmische Informationsarchitektur soll dabei eine Reibungslosigkeit sicherstellen und Widerspruch oder alternative Interpretationsmöglichkeiten eindämmen.

Das Subjekt unter Druck

Wenn die Herrschaft des Büros diese Allianz mit den Möglichkeiten digitaler Wirklichkeitskonstruktion eingeht, wenn Realitätsdefinitionen zusehends technisch geschlossen werden, dann droht nicht nur die Beeinflussung von Wahlen, sondern die Autonomie des Subjekts wird unter Druck kommen, womöglich in der vollen Tiefe bürokratischer Herrschaftsverhältnisse.

Man kann nur hoffen, dass es anders kommt, aber wir sollten mehr über Algorithmen sprechen und sie zum Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen machen. (Mario Becksteiner, 20.10.2018)