Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Laut Plan sollte in gut fünf Monaten der Brexit über die Bühne gehen. Hunderttausende Menschen zeigten am Wochenende in London, dass sie etwas dagegen haben.

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Suzanne Watts ist aus der 40 Kilometer entfernten Vorstadt Hemel Hempstead nach London gekommen. Mit einer Maske als Theresa May getarnt zerrt sie das gefesselte und geknebelte Großbritannien, dargestellt von Watts Geschäftspartner Sherief Hassan, durch die Straßen von London. "No influence", kein Einfluss, steht auf einem Pappschild an Hassans Handgelenk. "Die Premierministerin führt das Land in die Irre", sagt Watts zur Begründung und freut sich über ihre vielen Mitdemonstranten. "Wir müssen den Brexit aufhalten. Dazu braucht es eine zweite Volksabstimmung."

Diese Forderung ist es, die an einem warmen Oktobersamstag knapp 700.000 Menschen aus dem ganzen Land in der Hauptstadt zusammengebracht hat. Rund 100.000 waren auch früher schon gegen den Brexit auf der Straße. Dass es diesmal rund siebenmal so viele Anhänger des EU-Verbleibs sind, dürfte dem größer werdenden Termindruck geschuldet sein: Dem Willen von Parlament und Regierung zufolge soll das Königreich in gut fünf Monaten Ende März den Brüsseler Klub verlassen.

Mehr als 150 Busse haben Demonstranten gebracht, bis von den Orkney-Inseln vor der Nordküste Schottlands sind die Bürger gekommen. Stundenlang schiebt sich der bunte Zug durch London, von Hyde Park Corner über Piccadilly und Pall Mall bis zum Parliament Square.

Dort werben Politiker aller Schattierungen, von Londons Labour-Bürgermeister Sadiq Khan über den Liberaldemokraten-Chef Vincent Cable bis zur prominenten Tory-Abgeordneten Anna Soubry, für eine zweite Volksabstimmung, denn, sagt der frühere Labour-Spindoktor Alastair Campbell: "Der versprochene Brexit, für den die Mehrheit gestimmt hat, existiert gar nicht."

Auch viele Brexit-Willige

Allerdings gibt es trotz der festgefahrenen Verhandlungen mit der EU noch immer viele Brexit-Willige auf der Insel. Umfragen zufolge würde mittlerweile eine hauchdünne Mehrheit für den Verbleib stimmen. Sämtliche Zahlen bewegen sich aber im statistischen Mittel. Auf der Demo sind überwiegend jene vertreten, die schon immer für den Verbleib eintraten. Diese EU-Freunde sind statistisch gesehen jünger, besser ausgebildet und materiell erfolgreicher, neigen aber auch dazu, die Brexiteers für ein wenig minderbemittelt zu halten.

Ob sich damit festgefahrene Meinungen verändern lassen? Ein Londoner Demonstrant hat sein selbstgebasteltes Schild mit dem Slogan verziert: "Beim nächsten Mal stimmen die Truthähne nicht für Weihnachten" – die Anspielung auf eine englische Redensart beschreibt Menschen, die gegen ihre eigenen Interessen verstoßen. Er bewundere die Demonstranten, teilt der liberale Tory-Abgeordnete Nick Boles auf Twitter mit und schiebt nach: "Aber ein zweites Referendum würde die Teilung unseres Landes verschlimmern und Extremisten Tür und Tor öffnen."

Der frühere Parteivordenker sucht den Ausweg aus dem Brexit-Dilemma in einer temporären Mitgliedschaft seines Landes in der Freihandelszone Efta. Ihr gehören die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein an. Premierministerin Theresa May, so Boles, verliere zunehmend "das Vertrauen von Fraktionsmitgliedern unterschiedlicher Schattierungen", glaubt der 52-Jährige. "Wir sind kurz vor dem Verzweifeln."

Sturz von Theresa May

Am Wochenende mehrten sich die Spekulationen, die Konservativen könnten ihre Vorsitzende zugunsten eines Kompromisskandidaten stürzen. Der vor allem von sich selbst ins Spiel gebrachte frühere Brexit-Minister David Davis kann allerdings ebenso wenig auf breite Unterstützung hoffen wie Außenminister Jeremy Hunt oder dessen Vorgänger Boris Johnson.

Den Buchmachern zufolge könnten die Demonstranten vom Samstag dem Ausweg auf der Spur gewesen sein: Zweimal binnen 24 Stunden verkleinerten sie am Wochenende die Gewinnmargen für Wetten auf die zweite Abstimmung. Deren Wahrscheinlichkeit liegt nur noch knapp unter 50 Prozent. (Sebastian Borger aus London, 22.10.2018)